Über Eigenschaften des Glaubens

Religiöser Glaube hat viele Eigenschaften. Einige von ihnen habe ich hier zusammengetragen. Auch wenn dabei einzelne negative, bedenkliche zur Sprache kommen werden, stehe ich dem Glauben insgesamt positiv gegenüber, oder kürzer ausgedrückt: ich bin gläubig. Dies sei vorausgeschickt.

Glaube ist eine Tätigkeit des Verstandes und des Herzens, wobei die des letzteren überwiegt. Wer glaubt, stellt Fragen wie "Woher komme ich?", "Was muß ich tun, was vermeiden?", "Wer hat die Welt und mich gemacht?", "Was geschieht mit mir, wenn ich sterbe, und was kommt danach?"

Die Antworten hierauf besitzen nicht dieselbe Sicherheit und Zuverlässigkeit wie viele wissenschaftliche Aussagen, doch ist das für gläubige Menschen kein Mangel. Sie führen zu Bewunderung, dankbarer Anbetung und Liebe. Sie entsprechen Hoffnungen und Wünschen nach Trost und (ausgleichender) Gerechtigkeit, nach innerem Frieden. Die Antworten geben Lebenshilfe und Orientierung, die man auf andere Weise, zum Beispiel in der Philosophie, nur schwerlich findet. Sir 2,13: "Wehe dem schlaffen Herzen, weil es nicht vertraut; darum wird es keinen Schutz haben."

Glaube verwendet Bilder, sowohl gedankliche wie materielle, wobei es in Bezug auf letztere in manchen Religionen strenge Verbote gibt, die teils eingehalten werden, teils aufgeweicht wurden und scheinbar nicht mehr gültig sind.1) Glaube verwendet Gleichnisse, die nicht immer gut verständlich sind und bisweilen sogar ausgesprochen rätselhaft bleiben.

Glaube führt zur Bescheidenheit (ein altes Wort dafür ist wohl Demut), zu mehr Rücksichtnahme und Freundlichkeit. So wirkt er sich nicht selten wohltuend auf andere aus.

Umgekehrt kann der Glaube auch als Machtmittel missbraucht werden und schlimmen Schaden anrichten. Überheblichkeit, Stolz, Unduldsamkeit gehören zu den Wurzeln dieses Missbrauchs. Glaube ist nicht gefeit gegen oberflächliches Denken und unzulässige Verallgemeinerungen, die zudem den Nachteil der Unlogik in sich tragen können.2)

Glaube bindet und verbindet, führt zu Gemeinschaft ‒ und trennt. Ausgegrenzt werden häufig die, die nicht dazu gehören. Sie gelten als "Heiden", "Hurer" (Luther-Übersetzung) und "Ketzer", müssen bestraft, eventuell sogar ausgerottet werden. Als "Ungläubige" werden nicht nur Atheisten beschimpft, sondern auch solche, die an Gott glauben, aber anders als man selbst. Hunderte von Millionen Menschen in aller Welt glauben nicht an einen einzigen Gott, sondern an viele Götter; sie werden von denen, deren Glaube monotheistisch ist, sehr oft verachtet und im günstigsten Fall bemitleidet. Eine gewisse Wende ist hier seit einigen Jahrzehnten unter dem Namen "Ökumene" eingetreten. Anhänger dieser Bewegung aus verschiedenen Religionen, darunter der christlichen, suchen nach Gemeinsamkeiten, die alle Menschen verbindet: die Ehrfurcht vor Gott oder den Göttern und ihrer Schöpfertätigkeit; die Sehnsucht nach Frieden und mehr Menschlichkeit; Mitleid und Hilfsbereitschaft gegenüber Schwachen und Notleidenden.

Glaube kann, indem sich ein Volk für das von Gott auserwählte hält, eng nationalistisch, aber auch, im Gegensatz dazu, weltumspannend sein, allen Völkern zugewandt.3)

Glaube entsteht nicht von allein. Ein Kind, das nicht von Gott hört, kann ihn sich nicht selber ausdenken. Glaube wird gelehrt und verkündet: von Eltern, in der Schule und Kirche. Glaube hat viel mit Tradition zu tun. Aufgezeichnet ist er für das Christentum in der Bibel, der Heiligen Schrift. Welche der in der Urgemeinde kursierenden Glaubenszeugnisse, Wundererzählungen und Legenden dafür Verwendung fanden, wurde Jahrhunderte später von Menschen festgelegt, nicht von Gott selbst. Dies geschah auf Versammlungen hoher geistlicher Würdenträger, den Konzilien. Man sagt zwar, die daran Beteiligten seien bei ihren Beratungen und Entscheidungen von Gott inspiriert worden4), doch waren sie sich dabei nicht immer einig, und manche Konzilsbeschlüsse widersprachen vorangegangenen5).

Glaube übernimmt Details aus anderen Religionen und Kulturbereichen, ohne dass dies ausdrücklich hervorgehoben wird: die Vorstellung von Engeln (mit Flügeln oder ohne sie), von Geistern und Dämonen, bestimmte Feiertage und Formen der Liturgie, zum Teil nur leicht abgewandelt, sind Beispiele dafür.

Wer glaubt, ohne dabei fanatisch zu sein und auf andere, die nicht so glauben wie er, herabzusehen; wer im Glauben sich nicht mit nutzlosen Problemen quält und nicht im Übereifer Streit sucht, ist vielfach im Vorteil gegenüber Nichtgläubigen. Er hat eine Perspektive, kennt bestimmte Verheißungen. Er verändert sich, legt üble Gewohnheiten ab, ordnet Prioritäten6) neu. An bestimmten Formulierungen findet er Trost und Freude. So sagte neulich jemand: "Wenn ich hier die Augen schließe, mache ich sie droben wieder auf." Ein solcher Satz ist ohne Glauben unmöglich.

Ich gehöre nicht zu denen, die sozusagen "hundertprozentig" glauben. Manche Zweifel bleiben bestehen, doch beunruhigen sie mich nicht ernstlich und dauerhaft. Bei bestimmten Glaubensaussagen scheint mir Menschliches allzu nah. Es zeigt unsere Begrenztheit im Verstehen des Göttlichen.

Die Fähigkeit zu glauben, ist ein Geschenk. Auch dass wir auf Menschen treffen, die im Glauben leben, die uns manches erklären, was wir selber nicht verstehen, gehört dazu. Ich bin sehr froh darüber, dass mir Gott dies nach jahrzehntelanger Indifferenz gegenüber dem Glauben ermöglichte und mich an Seinem Wort, Seiner Gnade teilhaben läßt.

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1) Ob das Bilderverbot gemäß Ex 20,1-5 und anderen Bibelstellen im Christentum besteht, und wenn ja, in welcher Form ‒ darüber wird unter anderem hier in einem Geschichtsforum größtenteils sachlich, jedoch ohne klares Ergebnis, diskutiert. Zur Sprache kommen dabei Michelangelos Deckengemälde in der Sixtinischen Kapelle sowie Wandmalereien in Kirchen und Klöstern, verschiedene Übersetzungen und Interpretationen des Ersten und Zweiten Gebotes, historische Bilderstürme, die Ikonenmalereien in der Orthodoxen Kirche, der Andenkenhandel mit Heiligenfiguren und einiges mehr. ‒ Von den gedanklichen Bildern sind manche sehr eingängig und halten sich lange. Andere galten nur zeitweise, entsprechend dem jeweiligen Kenntnisstand und herrschenden Weltbild. So wird zum Beispiel in Eph 2,2 die Luft als das Herrschaftsgebiet des Satans bezeichnet. Moderne Bibelübersetzungen wie "Hoffnung für Alle" rücken davon ab und erwähnen die ursprüngliche Bibelstelle lediglich als Fußnote. ‒ Anmerkung: die genannte Diskussionsseite führt durch einen Link auf die Seite «Die Zehn Gebote Gottes» "von romtreuen und den Glauben bezeugenden Laien und Priestern", wie es in ihrem, keine Namen von Verantwortlichen enthaltenenen "Impressum" heißt. Sie enthält unter anderem "Beweise" für die Existenz Gottes, die durch unverweste Leichname, Blut- und Eucharistiewunder, weinende Statuen und Bilder gegeben seien. Die phantasievoll-märchenhaften Behauptungen sind unbiblisch und sollen unter Androhung reißerisch dargestellter, unmenschlicher Höllenqualen geglaubt werden. Unbliblisch ist auch ein Teil der auf den "romtreuen" Seiten aufgezählten Sünden. In der Aufstellung der Zehn Gebote ist vom Bilderverbot nicht die Rede, anders als etwa im Kleinen Kathechismus Martin Luthers, in dem es gleich zu Anfang beim Ersten Gebot steht. Ausführliches zum Bilderverbot findet man z. B. bei Wikipedia.
2) Wiederum lässt sich hier der Apostel Paulus anführen. In einem Brief an seinen Mitarbeiter Titus behauptet er (Tit 1,12), dass die Kreter immer lügen. Dies habe einer von ihnen gesagt, ihr eigener Prophet, und dieses Zeugnis sei wahr. Nun ist es ja so: wenn derjenige, der behauptet, dass die Kreter immer lügen, selbst ein Kreter ist, dann lügt auch er, und seine Aussage ist falsch. Hier zeigt sich ein logischer Widerspruch.
3) Der Begriff "auserwählt" ist sehr facettenreich und umfasst mehr, als man gewöhnlich vermutet. Ausführliches über ihn mit vielen biblischen und außerbiblichen Zitaten findet sich hier. Die betreffenden Seiten eines "metaphysisch liberalen Freidenkers" enthalten scharfe Angriffe gegen die Religion und preisen die Aufklärung, die allein auf die Vernunft setzt. Der Glaube an sie wird, wenn überhaupt, weit weniger kritisch betrachtet als der Glaube an Gott. Ausgewogener (und wiederum christlich) erscheint mir dieser Artikel, auch wenn ich nicht mit allem in ihm einverstanden bin.
4) "Inspiriert" hängt mit dem lateinischen Wort spiritus = Hauch, Atem, Leben, Geist zusammen; gemeint ist der Geist Gottes, der auch der Heilige Geist genannt wird. In Jesaja Kap. 11, V. 2 heißt es: "... der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn". Das Substantiv "Inspiration" kann mit "Erleuchtung" oder "Eingebung" übersetzt werden. Auch die Autoren des Alten und Neuen Testaments gelten als inspiriert.
5) Die "Konzilsväter" wählten nicht nur die biblischen Schriften aus, wobei, über die gesamte Christenheit gesehen, keine vollständige Übereinstimmung erzielt werden konnte; sie interpretierten auch vieles, führten darüber leidenschaftliche Debatten, legten fest, was geglaubt werden durfte und sollte, verdammten davon Abweichendes als Irrlehre. Es kam zur Kirchenspaltung, die bis heute besteht. (Vgl. hierzu, als Beispiel, die Ausführungen von Wikipedia über das Erste Konzil von Nicäa.) – In einem 1519 in Leipzig mit einem der damals führenden Theologen, Johannes Eck, geführten Streitgespräch erklärte Martin Luther, dass sich Konzilien irren können und oft geirrt hätten. Auf dem Vatikanischen Konzil von 1870 in Rom vertrat der katholische Bischof Stroßmayer dieselbe Ansicht und belegte sie ausführlich. Seine Protestrede 5a) gegen die Unfehlbarkeit des Papstes wurde von der Konzilsleitung nicht publiziert, sondern gelangte auf Umwegen an die Öffentlichkeit. Auf einer privaten, katholischen Webseite wird sie als Fälschung bezeichnet. Im "Biographisch-bibliographischen Kirchenlexikon" heißt es dazu hier: "... Als letzter österreichischer Bischof nahm er das Dogma erst 1872 an. Eine von ihm am 2. Juni 1870 gehaltene Konzilsrede wurde später in gefälschter Form in Umlauf gebracht." Offizielle Äußerungen von katholischer Seite zu der umstrittenen Rede scheint es im Internet nicht zu geben. – Eine ausführliche Darstellung der Konzilien seit dem in der Apostelgeschichte genannten "Apostelkonzil" zu Jerusalem findet man hier. Ihr ist zu entnehmen, dass es auf ihnen sehr häufig zu Streitigkeiten kam, die mit (z. T. gegenseitigen) Verdammungen, Amtsenthebungen und Exkommunikationen endeten. Weltliche Mächte (Kaiser und ihre ehrgeizigen Ehefrauen) mischten sich ein; Politik spielte mit eine Rolle. Gelegentlich wurden Beschlüsse mit militärischer Gewalt erzwungen. Manche Konzilien wurden von der östlichen (byzantinischen), andere von der westlichen (römischen) Kirche nicht anerkannt.
Ein Konzil aus unserer Zeit: das Zweite Vatikanische. Ausführliche Darstellung bei Wikipedia.
5a) Die auf einer Übersetzung aus dem Englischen beruhende PDF-Datei enthält außer gelegentlichen orthographischen Fehlern (z. B. "Cristus" statt "Christus") auch mindestens einen sinnenstellenden. Auf S. 5 liest man: "Diese Vergeßlichkeit erscheint mir so unmöglich, als wie wenn ein Geschichtschreiber dieses Konzils mit seinem Wort Seiner Heiligkeit Pius des Neunten Erwähnung thun würde." Vom Sinn her muß es statt "mit seinem Wort" "mit keinem Wort" heißen.
6) Über Prioritäten, amüsant und ohne religiösen Bezug, s. hier.

Fortsetzung

"Ich glaube. Hilf meinem Unglauben!"
Formen des Unglaubens
Eine sprachliche Besonderheit
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