Über das Beten

Wenn wir als Christen beten, konzentrieren wir unsere Gedanken und Gefühle ganz auf Gott und seinen Sohn Jesus Christus. Wir sprechen zu ihnen innerlich oder so, dass man es hören kann. Unsere Gebete sind vorgegebene, ehrwürdige Texte wie zum Beispiel das Vaterunser oder werden frei formuliert. Wir beten allein für uns oder in Gemeinschaft mit anderen.

Manche meinen, beten sei ein Zwiegespräch mit Fragen oder Bitten von unserer Seite und Antworten, die dabei von Gott oder Jesus gegeben werden. In einem modernen christlichen Buch1) las ich, dass der Autor sogar mit Gott "spazieren" gehe, dass Gott sich darüber "extrem freue" und daran "genauso viel Spaß und Freude" wie er selbst habe. Dem kann ich nicht folgen; unbeachtet bleibt dabei das Bibelwort:

"Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR." (Jes. 55,9)2)

Gott steht, entgegen vielen, ihn vermenschlichenden Reden und gedanklichen Bildern unserer Zeit, unvorstellbar weit über uns. Diesen Abstand können wir nicht nach Belieben verringern, auch nicht beim Beten.

In demselben Buch wird der Titel eines anderen, in englischer Sprache geschriebenen Buches erwähnt, der auf deutsch lautet: "Steh nicht einfach rum, sondern bete!" Dieser Befehl klingt anmaßend, und sein sprachliches Niveau ist das gleiche wie oben.

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Beim Beten denken wir daran, dass Gott uns gemacht hat, dass Er über Leben und Tod bestimmt und über das, was danach kommt. Wir erinnern uns daran, was wir falsch gemacht haben3), bedauern es, bitten Gott um Vergebung und nehmen uns vor, es nicht zu wiederholen. Wir bitten Gott um Kraft, die Gebote und Pflichten, die Er uns aufgibt, zu erfüllen. Wir bitten um ein reines, liebevolles Herz.

Wir danken Gott für all' das Gute, das er uns gab und täglich gibt, und wenn Schweres, Leidvolles mit dabei ist, bitten wir ihn, es ertragbar sein zu lassen. Diejenigen, die in solchen Situationen Gott Vorwürfe machen und dabei die öfter anzutreffende Frage stellen: "Wie kann Gott das zulassen?", bedenken nicht, dass der Schöpfer und Regierer des gesamten Universums den Menschen für Sein Handeln und Wirken keine Rechenschaft schuldig ist.

Die Welt, in der wir leben (bisweilen die "sichtbare" genannt), ist aus verschiedenen, nur zum Teil erklärbaren Gründen nicht perfekt. Eigenes und fremdes Leid, Kriege, Naturkatastrophen, Unglücksfälle und Verbrechen aller Art bedrücken viele. Wenn es um andere Menschen geht, können wir für sie beten, einzeln, im kleinen vertrauten Kreis oder im Gottesdienst. In diesem betet der Pastor, oft zusammen mit einem oder mehreren Helfern, stellvertretend für die ganze versammelte Gemeinde.

Ein solches Fürbittengebet hörte ich im Urlaub in der evangelischen Marienkirche4) der märkischen Stadt Beeskow Ende Juni 2005. Nach dem Gottesdienst gab mir Herr Pfarrer Reimer, der ihn hielt, freundlicher Weise den Text. Ohne seine besondere Erlaubnis (die einzuholen ich in dem Moment leider vergaß) lasse ich das Gebet hier folgen:

"Heiliger Herr, ewiger und allmächtiger Gott. Vor dem Anfang der Welt lebst du im Geheimnis deines dreieinigen Seins. Vor dem Anfang unseres Daseins hast du uns erwählt, beim Namen gerufen und zum Glauben in deiner Gemeinde bestimmt. Alles, was ist, verdankt sich deiner Gnade. Alles, was atmet, lobt deine Macht. So sind auch wir.

Weil du diese Erde gewollt hast, bitten wir dich für alles bedrohte Leben: für Kranke und Sterbende, für Vertriebene und Gefolterte, für Hungernde und Verlassene, für unterdrückte Völker und gefährdete Arten, für die Erde, das Wasser, die Luft, für die zahllosen Menschen, die nach uns kommen werden und denen wir ein verdorbenes Erbe hinterlassen. Gott, rette diese Welt.

Weil du Menschen zu dir rufst und sie aus aller Verstrickung befreist, bitten wir dich für alle, die in Gefangenschaft leben: für die Unschuldigen und die Schuldigen, für die Habgierigen und die Mordlustigen, für die Süchtigen und die Verwirrten, für alle, die Macht missbrauchen und Wahn verbreiten, für alle, die ihr eigenes Leben zerstören. Wehre der Bosheit, erlöse die Sünder, sorge für Freiheit und Recht.

Weil du uns Menschen erwählt hast, im Licht deiner Wahrheit zu leben, bitten wir dich für alle, die nach dir suchen: in Einsamkeit und Verzweiflung, in Familien und Schulen, in den Gemeinden und Konfessionen, in der Psychoszene, in den esoterischen Zirkeln, in allen Kulturen und Religionen der Erde, lass deine Herrlichkeit sehen, lass deine Wahrheit finden, leite alle zu dir.

Der Weg zu dir, Gott, führt uns durch Trennungen,
der Glaube an dich, Gott, schafft neue Bindungen.
Das Leben aus dir, Gott, schenkt Kraft.

In der begrenzten Zeit unseres Lebens loben wir deine Ewigkeit. Mit der begrenzten Liebe unseres Herzens danken wir deiner Barmherzigkeit. Mit dem begrenzten Einfluss unserer Fähigkeiten dienen wir deiner Wahrheit. Lamm Gottes, erbarme dich. Sohn Gottes, segne uns. Messias, erlöse uns.

Mit allen Geschöpfen auf Erden, mit allen Engelmächten und allen Sphären des Universums beten wir dich an, den einen und einzigen Gott, den Vater und den Sohn und den Heiligen Geist jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Amen."

Vielleicht berührt es Sie, liebe Leserin, lieber Leser dieser Seite, wegen seiner Feierlichkeit und Weitgespanntheit ebenso wie mich. - - -

Der Pastor einer Berliner Gemeinde wurde ermordet. Sie trauert, und ich las dazu:
"Wir beten für ihn im Glauben an die Auferstehung."

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1) Hans Peter Royer: "Nach dem Amen bete weiter"
2) Es ist uns nicht erlaubt, mit Gott so unbefangen-vertraulich umzugehen wie mit einem Menschen. Wer versucht, "Sein Angesicht zu schauen", muß sterben. (2. Mose 33,20) Dies wußte Elia, der sein Haupt ehrfurchtsvoll mit dem Mantel verhüllte, als ihm Gott begegnete. (1. Kön. 19,13)
3) d.h. an unsere Sünden. Zum Begriff "Sünde" siehe z. B. hier (Wikipedia-Artikel)
4) St. Marien in Beeskow, eine dreischiffige Backsteinhallenkirche aus dem 14./15. Jahrhundert, ist eine der größten und bedeutendsten der Mark Brandenburg. Sie wurde im 2. Weltkrieg bis auf die Umfassungsmauern zerstört und wird seit 1991 restauriert. Die Gottesdienste finden in einem zur Notkirche ausgebauten Seitenschiff statt.

Väterliche Lehre (kleine Geschichte)
"Beten kann ich auch im Wald." (Der Blog-Artikel enthält auch Bemerkenswertes über die Natur.)
Was ein berühmter dänischer Philosoph und Theologe über das Beten schrieb
Am Morgen (eigenes Gebet)
Artikel über das Beten des evangelischen Rundfunk- und Fernsehsenders ERF, dem ich nur zum Teil zustimmen kann

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