Vernunft und Unglaube

Ungläubige Menschen berufen sich oft auf die Vernunft.1 Was bedeutet dieses Wort?

Dem Etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache von Friedrich Kluge, Straßburg 1915, entnehme ich dies:

"Vernunft, mhd. vernunft ahd. firnunft, 'Tätigkeit des Vernehmens, sinnliche Wahrnehmung, Verständnis, Einsicht, Verstand': Abstraktum zu vernehmen mhd. vernëmen, ahd. firnëman 'vernehmen, hören, erfahren, begreifen, verstehen.' Diesen übertragenen Bedeutungen liegt etwa die von got. franiman 'in Besitz nehmen, ergreifen' zugrunde …"

Was Immanuel Kant über Vernunft unter anderem schrieb, wird in [1] zitiert und ist mir unverständlich.

Vernunft war ein Lieblingswort zur Zeit der Aufklärung. Damit bezeichnet man eine geistige Strömung, die sich zum Ziel setzte, Menschen von unsinnigen, zum Teil erzwungenen Glaubensvorstellungen und vom Aberglauben zu befreien. Philosophen, aber auch manche Theologen gingen dabei sehr weit (letztere, wie ich finde, zu weit), indem sie die Existenz und das Wirken Jesu bestritten, wie sie von der Bibel beschrieben werden; das hat sich bis heute fortgesetzt.

Ehe ich darauf näher eingehe, ein paar Bemerkungen zur Vernunft selbst.

Unbestreitbar ist es für uns vorteilhaft, von der Vernunft Gebrauch zu machen. Ohne sie würden wir in zivilisatorischer Roheit und geistiger Dumpfheit, verbunden mit zahllosen Ängsten und Schrecken, dahinvegetieren.

Andererseits hat sie, die Vernunft, auch ihre Grenzen. Diese werden sichtbar bei Problemen, die sich mit Hilfe der Vernunft nicht lösen lassen. Eines der bekanntesten lautet: Was war eher da – das Huhn oder das Ei? Von dem berühmtem britischen Mathematiker, Logiker und Philosophen Bertrand Russell stammt das Problem des Dorffriseurs. Dieser rasiert alle Männer, die sich nicht selbst rasieren, und die Frage lautet: rasiert er sich selbst? Darauf gibt es keine schlüssige Antwort, denn: rasiert er sich selbst, dann verstößt er gegen die Voraussetzung, alle Männer zu rasieren, die sich nicht selbst rasieren. Rasiert er sich dagegen nicht, so gehört er zu jenen und muss es tun.

In der Bibel gibt es ebenfalls Probleme, die der Vernunft Schwierigkeiten bereiten. Recht bekannt ist das "Lügner-Paradoxon", das sich aus dem Brief des Apostels Paulus an Titus ergibt [2], weniger dagegen eine Stelle im Alten Testament, und zwar im Psalm 116 [3]. Dort heißt es: "In meiner Bestürzung sagte ich: Die Menschen lügen alle." Wenn das, was der Psalmist sagt, stimmt, lügt auch er, und es ist falsch.

Gänzlich versagt die Vernunft bei bestimmten Ereignissen, Zuständen, Objekten in weit zurückliegender Vergangenheit oder in der Zukunft. Was letztere betrifft, so können wir nicht voraussagen, was zum Beispiel in hundert Jahren sein wird; selbst das Wetter im kommenden Sommer in allen Einzelheiten bleibt ungewiss. Es gibt Wissenschaftler, die ausgerechnet haben, dass die Erde in einigen Milliarden Jahren verglühen wird. Ob das wirklich stimmt, weiß keiner, und die wenigsten interessiert es. Ähnlich ist es mit der Entstehung des gesamten Universums beim sogenannten "Urknall". Hierbei handelt es sich um ein, auf gewissen astronomischen Beobachtungen und zusätzlichen Annahmen beruhendes, theoretisches Konstrukt, das oft als Tatsache ausgegeben wird.

Bei geistig-seelischen Vorgängen: Träumen, Wunschvorstellungen, Hoffnungen, um nur einiges zu nennen, ist die Vernunft nur in geringem Maße, oft überhaupt nicht, anwendbar. Sie sind nicht ihr eigentliches Feld und gehören eher in den Bereich des Glaubens, der Religion. Auf Fragen wie: Wann und unter welchen Umständen werden wir sterben, und was kommt danach? weiß die Vernunft nichts zu antworten. Ausschließlich an der Vernunft Orientierte stellen sie und weitere gar nicht erst und weichen ihnen aus. Der Gläubige erkennt, dass er nicht alles wissen kann, und will es deshalb auch nicht. Er akzeptiert das Vorhandensein von Geheimnisvollem, Unbegreiflichem und spricht, wie es in der Religion getan wird, dabei oftmals von Wundern.

Nicht wunderbar, sondern eher wunderlich ist das Verhalten eines recht bekannten Theologie-Professors unserer Zeit.[4]
An sich ist es seine Aufgabe, Studenten auf ihren Beruf als Pastoren vorzubereiten, zu dem als wesentliche Pflicht die Ausbreitung des christlichen Glaubens gehört. Er aber glaubt genau das Gegenteil: dass Jesus Christus nicht Gottes Sohn ist und nach seiner Kreuzigung nicht von den Toten auferstand. In seinem "Bekenntnis" Form eines "Briefes" an Jesus [5] äußert der Professor die Ansicht, Jesu Leichnam sei nicht, wie es die Bibel lehrt, auf seltsame, bestürzende Weise verschwunden, sondern wie bei allen anderen Gekreuzigten von wilden Tieren gefressen worden. Ich finde es unvernünftig und geradezu widersinnig, an jemanden zu schreiben, den man für tot hält. Bei dem Professor kommt hinzu, dass er mit einem Rest von Glauben aus der Kindheit davon "überzeugt" ist, dass Jesus ihm Seine "Sympathie" schenkt und ihm den Unglauben verzeiht, falls er "auf den Wolken des Himmels wiederkommen" sollte. Anmaßend klingt der Satz: "Bis dahin muß aber religiös Schluß sein mit uns beiden aus den Gründen, die ich Dir genannt habe - endgültig." Letzteres hoffe ich nicht - für den Professor. (Dass er bei seinen vielen Aktivitäten gegen den traditionellen Glauben an Jesus und für seine eigene berufliche Rehabilitierung glücklich ist, kann ich mir kaum vorstellen - ich wär's nicht.)

------------
1Gläubige bisweilen auch. In einer vielbeachteten, von islamischer Seite zum Teil heftig kritisierten Gastvorlesung in der Universität Regensburg am 12.9.2006 sagte der ehemalige Papst Benedikt XVI.: "Gott handelt mit Logos. Logos ist Vernunft und Wort zugleich ..." In dieser Rede kommt das Wort "Vernunft" mit seinen Zusammensetzungen "vernunftgemäß", "vernunftwidrig" über vierzigmal vor.

[1] zitiert in http://books.google.de/books?~Ohne+hier+mit+der+nat%C3%BCrlichen+Vernunft)
[2] http://www.bibleserver.com/text/EU/Titus1, Vers 12
[3] http://www.bibleserver.com/text/EU/Psalm116", Vers 11
[4] Gerd Lüdemann, der mit Interviews, Zeitungsartikeln und Internetseiten auf sich aufmerksam macht. Ein Beispiel, in englischer Sprache: http://wwwuser.gwdg.de/~gluedem/ger/004001001.htm. Man lese auch den letzten Absatz von http://wwwuser.gwdg.de/~gluedem/ger/00con.htm, wo die Prüfungssituation der Studenten von Prof. Lüdemann kurz berührt wird. (Beide Seiten: Letzte Aktualisierung am 16.11.2013)
[5] http://wwwuser.gwdg.de/~gluedem/eng/003002001.htm

Das geknickte Rohr

Zurück zu "die griechischen Wörter ..."
Zurück zur Themenübersicht, Teil 2