Über die griechischen Wörter dóxa und lógos

Das der Koiné, der Sprache des Neuen Testaments, angehörige Wort δόξα (dóxa) ist ein "Teekesselwort". Damit bezeichnet man bei einem bestimmten Spiel Wörter, die bei gleichem Klang (und gleicher Schreibweise) ganz verschiedene Bedeutungen haben. Im Deutschen gehören z. B. Bank, Flügel, Mutter, Niete, Schloss und Ton dazu; es gibt viele weitere, auch in anderen Sprachen. Im Russischen bedeutet мир (mir) einerseits Frieden, andererseits Welt. Gleich geschrieben und ein wenig verschieden ausgesprochen, steht im Lateinischen populus sowohl für Volk wie für Pappel. (Noch ein Beispiel)

Nach dem Taschenwörterbuch Altgriechisch-Deutsch von Langenscheidt hat δόξα folgende Bedeutungen:
(1) Meinung, Glaube, Ansicht, Vorstellung; auch Erwartung, Wahn, Schein, Beschluss, Plan, Urteil
(2) Ruhm, Ehre, Glanz, Herrlichkeit, Majestät, Pracht.

Auf einem Teil der ersten Begriffsreihe beruht, zusammen mit orthós = richtig, wahr usw., das Wort orthodox = rechtgläubig, während bei dem Wort Doxologie von der zweiten Reihe Gebrauch gemacht wird. Dieses bedeutet Lobpreisung; gemeint ist der Lobpreis Gottes. Schriftlich fixierte und seit altersher im Gottesdienst gebräuchliche Doxologien gibt es mehrere. Eine der bekanntesten bildet der Abschluß des Vaterunsers: "Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen." ¹

Die Silbe "log" ist in dem Wort lógos enthalten, das den Anfang des Johannes-Evangeliums kennzeichnet:
ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος ... (én archè èn ho lógos). Gewöhnlich wird dies mit "Im Anfang war das Wort ..." übersetzt.²

Dabei ist nicht ohne Weiteres klar, welches "Wort" gemeint ist. Dachte Johannes bei ihm an den Anfang der Bibel, wo es in 1Mos1,3 heißt: "Und Gott sprach: es werde Licht."? Wir wissen es nicht. Es liegt jedoch nahe, denn im weiteren Verlauf des Johannes-Evangeliums ist viel vom Licht die Rede.

Dies ist allerdings nicht die einzige Möglichkeit. Das Wort lógos hat, ebenso wie dóxa, keineswegs nur eine Bedeutung. In dem erwähnten Wörterbuch heißt es dazu unter anderem:

λόγος - das Sagen, Sprechen, Rede, Darstellung; Wort, Spruch, Ausspruch, Behauptung, Satz, Grundsatz; Beschluss; Kunde, Botschaft; Denkkraft, Vernunft. (Aufgeführt ist hier nur ein kleiner Teil; alle Bedeutungen füllen eine halbe Seite.)

Wegen seiner Vieldeutigkeit bleibt in dem obigen griechischen Anfangssatz das Wort "lógos" gelegentlich unübersetzt, und man liest "Im Anfang war der Logos ...", womit einem, wie ich meine, wenig gedient ist. Oder es heißt wie in der vielbändigen Wuppertaler Studienbibel zum Neuen Testament:¹a "Im Anfang war der Logos (das Wort) ...". Dem folgt eine mehrseitige Erklärung, was man sich unter Logos wohl alles vorstellen kann. Dazu gehören z. B. "Weisheit" und "Weltvernunft". Der Autor des betreffenden Abschnitts schreibt dazu: "Wie sollen wir heute auch nur mit einiger Gewißheit feststellen, welche Anschauungen seiner Zeit und Umwelt gerade Johannes vor Augen gehabt hatte? ... Die Leser brachten je nach ihrer Herkunft und nach ihrem persönlichen Denken ein ganz verschiedenes Verständnis des Ausdruckes 'Logos', 'Wort' mit. Mögen seine Leser bei 'Logos' ... an den 'Sinn' der Welt denken, an ein weltdurchwirkendes Gesetz oder eine weltdurchwirkende Kraft, oder mögen sie im 'Logos' ein göttliches Mittelwesen zwischen Gott und Welt sehen, wie es die Anschauungen der Gnosis lehrten, ..."
¹a R. Brockhaus Verlag, 13. Aufl. 2000

Ähnlich wie die Wuppertaler Studienbibel verfährt die Zürcher Bibel von 2007:
 "1 Im Anfang war das Wort, der Logos, und der Logos war bei Gott, und von Gottes Wesen war der Logos.
  2 Dieser war im Anfang bei Gott.
  3 Alles ist durch ihn geworden, und ohne ihn ist auch nicht eines geworden, das geworden ist."
Klickt man auf der Website neben der ersten Verszeile auf , erscheint dieser erklärende Text:


Heraklit, der ein halbes Jahrtausend, bevor Jesus Christus zur Erde kam, lebte (ca. 550 bis ca. 480), und von dem der bekannte Ausspruch stammt, dass niemand zweimal in den gleichen Fluss steigen kann, schrieb: "Diesen Logos (Weltgesetz), der doch ewig ist, begreifen die Menschen nicht, weder bevor sie davon gehört noch, sobald sie davon gehört haben. Denn obgleich alles nach diesem Logos geschieht, machen sie den Eindruck, als ob sie nichts davon ahnten ..." (Fragment 1, zitiert nach http://www.re-wi.de/Heraklit.htm )

Bei einer vielbeachteten, von islamischer Seite zum Teil heftig kritisierten Gastvorlesung in der Universität Regensburg³ sagte Papst Benedikt XVI.: "Gott handelt mit Logos. Logos ist Vernunft und Wort zugleich ..." In dieser Rede kommt das Wort "Vernunft" mit seinen Zusammensetzungen "vernunftgemäß", "vernunftwidrig" über vierzigmal vor.5

Die Papstrede hatte unter anderem ein Gespräch zum Thema, das Kaiser Manuel II. Palaeologos im Jahre 1391 mit einem gebildeten Perser über das Christentum und den Islam führte. Es ging dabei um die Verbreitung von Glauben mit Gewalt. Sie ist unvernünftig, denn Glaube, d. h. innere Überzeugung, lässt sich nicht erzwingen, höchstens seine äußere Form. In der Rede heißt es weiter: "Nicht vernunftgemäß handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider."

Anders als in der Mathematik spielen in der Religion Vernunft und Logik nur eine untergeordnete Rolle. Zwar werden auch hier Begriffe definiert und Lehrsätze aufgestellt, letztere aber nicht theoretisch bewiesen. Einzelne Versuche in dieser Richtung führten zu keinen befriedigenden Ergebnissen.

Religiöse Lehrsätze und -meinungen, die für viele Menschen zu Glaubensgewissheiten werden, betreffen nicht das Reich der Zahlen, Figuren und Strukturen, welches diejenigen, die sich darin auskennen, oftmals fasziniert, sondern das Leben: das Leben des einzelnen und der Gemeinschaft, der er angehört, sowie das Leben mit und im Hinblick auf Gott. Sie vermitteln Orientierung, spenden Trost und Hoffnung, rufen zur Einhaltung von Pflichten auf, an die man selber nicht immer denkt. Sie erzeugen Dankbarkeit, Freude und inneren Frieden, befreien von manchem Zwang und Übel.

Herausragend ist bei alledem nicht die Vernunft, sondern die Liebe: die Liebe zu Gott und den Menschen. Und die Liebe, die von Gott zu uns kommt. So ist es jedenfalls seit einiger Zeit im Christentum. Früher stand nicht selten Gottes andere Seite im Vordergrund: seine Fähigkeit und sein Wille, Fehlverhalten zu bestrafen, wobei dieses, zum Teil bibelwidrig, oft genug von kirchlichen Autoritäten definiert wurde. Angst und Schrecken, ja Verzweiflung und unnötige Leiden waren die Folge.

Durch den Glauben motivierte und in ihm ausgeübte Liebe benötigt Vernunft und Logik nicht unbedingt; manchmal sind diese sogar hinderlich. Sie speist sich aus einer anderen Quelle, die es ihr ermöglicht, auch Hass und Feindschaft zu überwinden.

Vor gut zweihundert Jahren setzten die Machthaber der Französischen Revolution auf die Vernunft, die sie zeitweise nahezu vergötterten. In ihrem Namen wollten sie den Glauben ausrotten, was nicht gelang.

Immer noch gibt es Länder, in denen versucht wird, anderen einen bestimmten Glauben aufzuzwingen, oder Glauben allgemein von Anfang an zu unterdrücken, so dass er gar nicht erst entstehen und sich ausbreiten kann.

Für die vielen unschuldigen Opfer von Glaubensverfolgungen ist es gut zu beten.

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¹ Die Doxologie fehlt im Matthäus- und Lukasevangelium und in einigen Bibelausgaben. In anderen steht sie zum Teil in Klammern, oder es wird in Anmerkungen auf sie hingewiesen. Eine ältere katholische Bibel von 1851 (Übersetzung: J. F. Allioli) schreibt darüber: "Diese Worte sind unächt; die ältesten griechischen Handschriften und Väter haben sie nicht. ... Sie befanden sich nur in den alten Kirchenbüchern der Griechen, aus denen sie in einige jüngere Handschriften sich eingeschlichen haben." In evangelischen und ökumenisch geprägten Gottesdiensten gehören sie wie selbstverständlich dazu.
² Das mit ἀρχῇ (archè) aus dem Johannesevangelium gleichlautende deutsche Wort Arche beruht auf dem lateinischen arca für Kasten, Behältnis usw. Es bezeichnet Noahs Rettungsfahrzeug bei der Sintflut. Wenn eine Kirchengemeinde für sich den Namen "Arche" wählt, was öfter der Fall ist, kann das "Anfang" wie auch "Rettung" bedeuten.
³  www.radiovaticana.org/ted/Articolo.asp?c=94864. Die Rede wurde am 12.9.2006 gehalten.
4   www.univie.ac.at/igl.geschichte/europa/FR/Gretzel/Kult%20der%20Vernunft.htm

Weiteres zu "logos" und zur Entwicklung der griechischen Sprache bis heute (Internet)

5 "Vernunft" ist eines der Lieblingswörter von Papst Benedikt XVI. In seiner Rede im Deutschen Bundestag während seines Deutschlandbesuches vom 22. bis 25.9.2011 kam der Begriff wiederum mehrfach vor,6 diesmal in engem Zusammenhang mit der Natur und dem Recht, vgl. hier: http://www.oecumene.radiovaticana.org/ted/Articolo.asp?c=522684. Was der Papst mit der Natur und Vernunft als den "wahren Rechtsquellen" meinte, verstehe ich nicht. In der Natur gelten das Prinzip "Fressen und Gefressenwerden" und das Recht des Stärkeren – wurde das in der Rede übersehen? Die Natur kann und darf uns nicht in jeder Hinsicht Vorbild sein; das wäre unvernünftig und führt beim Recht des Stärkeren in die Barbarei. Ihr gegenüber stehen Kultur und Zivilisation. Zu ihnen gehört das von Jesus verkündete Gebot der Nächsten- und Feindesliebe.
6 Über Vernunft und Unglauben


Ergänzung
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