Das geknickte Rohr

In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war der Atheist Paul Schulz an einer der drei Hamburger Hauptkirchen als Pastor tätig. Weil er seine unchristlichen Ansichten von der Kanzel verkündigte und sich davon nicht abbringen ließ, wurde er nach einem ordnungsgemäßen kirchlichen Verfahren seines Amtes enthoben. Die Bild-Zeitung schrieb damals plakativ und nicht sachgerecht von einem "Ketzerprozess". Anzunehmen ist, dass damit bestimmte Assoziationen und Emotionen zugunsten von Paul Schulz geweckt werden sollten.

Auf dieser Internetseite: http://www.atheodoc.com/buch-10/diskurs-10-1037-3/ beschreibt er seinen theologischen Werdegang und sein Wirken in Hamburg. Von ihr notierte ich mir das Folgende und kommentiere es teilweise. Der Autor gehört nicht zu jenen spöttischen, aggressiven, gehässigen Religionskritikern, die mir gelegentlich begegnen, und hat eine mich berührende Geschichte. So empfinde ich ihm gegenüber, ungeachtet bestehender Meinungsunterschiede, eine gewisse Sympathie. Darauf deutet die Überschrift dieses Textes hin, die Bibelkennern kein großes Rätsel sein wird. Weiter unten komme ich auf sie zurück.

Paul Schulz war nicht von Anfang an atheistisch eingestellt – ganz im Gegenteil. Seine Eltern waren gläubig und erzogen den Jungen, nicht ohne eine gewisse Strenge, im gleichen Sinne. Schon als Fünfjähriger, schreibt er, wollte er Pastor werden, und dieser Wunsch hielt sich bei ihm, bis er erwachsen war. Konsequent begann er ein Theologiestudium. Bereits bei seiner ersten größeren Seminararbeit erlebte er eine heftige Enttäuschung: er hatte sie, wie er berichtet, mit "seinem ganzen Herzblut" geschrieben und der "Gewichtigkeit seines Glaubens" und erhielt für sie trotzdem nur die Note Ausreichend. Schulz war "empört", betonte, er sei "bewußter Christ", doch nutzte es nichts. Ihm wurde gesagt: "Die Methode der historisch-kritischen Erforschung der Evangelien ist eine exakte Wissenschaft. Sie hat mit Ihrem Glauben überhaupt nichts zu tun. Diese Methode kann jeder ohne Glauben nachvollziehen. Die müssen Sie lernen. Möglichst schnell."

Er gehorchte und wurde nach kurzer Zeit so, wie es seine Professoren von ihm verlangten. Wie sehr sie ihn umprogrammierten, geht aus Schulz‘ eigenen Worten hervor. Seine neu gewonnene – ich möchte sagen: erzwungene – Einstellung beschreibt er auf der genannten Internetseite unter anderem wie folgt:

"Allein was wirklich historisch passiert und passieren kann ist reale Wirklichkeit." "Die Religionswelt insgesamt ist nur eine Kopfwelt der Menschen." "Theologie selbst war für mich nur noch reine Vernunftarbeit, Gegenstand säkularer Wissenschaft." Und: "Karriere ist Karriere."

Eingeredet wurde ihm: "Objektive wissenschaftliche Arbeit, auch die theologische, sei anders, sei induktiv.", und in seinem autobiographischen Bericht schreibt er weiter: "Jede deduktive, subjektiv von oben gesetzte Behauptung, Aussage, Meinung, ist mir zutiefst suspekt, nicht nur religiöser, auch religionskritischer, gar atheistischer Art."

Dazu sei bemerkt:

Die Ausdrucksweise "reale Wirklichkeit" ist ein Pleonasmus ("doppelt-gemoppelt"). Sie findet sich auf der Seite nicht nur einmal, sozusagen aus Versehen. Zum Stichwort "Kopfwelt" meine ich, dass zur "Religionswelt" auch das Herz und die Seele gehören. Für Atheisten, die sich nicht sicher sind, ob sie eine haben, ist die im Deutschen verbreitete Redewendung "mit Herz und Seele" bedeutungslos. (Bei google werden für sie über 300000 Suchergebnisse gezählt.)

Und zu "Karriere ist Karriere": Schulz war offenbar sehr ehrgeizig. Er wollte den Doktortitel (und erhielt ihn), obwohl, anders als bei den Medizinern, die meisten seiner ehemaligen Berufskollegen ihn nicht haben und er für die Arbeit als Pastor auch nicht nötig ist. (Ich kannte einen anderen, gläubigen Pastor, der es bis zum Propst brachte. Er wurde in Mathematik promoviert.)

Beim Thema "induktiv, deduktiv" in wissenschaftlichen Arbeiten irrt sich Paul Schulz. Sowohl die Mathematik wie auch die Physik verwenden beides. (Physik lernte er während eines längerem Praktikums in einem führenden Forschungsinstitut der Max-Planck-Gesellschaft kennen und ließ sich in ihr sogar examinieren. Dabei hätte ihm das auffallen müssen.)

Auf seiner Internetseite erwähnt Schulz Newton und Heisenberg, ohne darauf hinzuweisen, dass ersterer neben seinen bewundernswerten mathematisch-naturwissenschaftlichen Aktivitäten als gläubiger Christ viele Jahre mit dem Studium der Bibel verbrachte, und dass letzterer schrieb: "Der erste Trunk aus dem Becher der Naturwissenschaft macht atheistisch, aber auf dem Grund des Bechers wartet Gott." Der Ex-Pastor kam über den ersten Trunk nicht hinaus.

In langen Passagen entwickelt er sein besonderes Gottesbild, auf das ich hier nicht näher eingehen kann. Es entspricht nicht demjenigen der Evangelischen Kirche, die ihn als Pastor anstellte, und deren Regeln er im Grunde verpflichtet war. Das war es, was schließlich zu seiner Amtsenthebung führte. Schulz: "Hätte ich einen Wunsch frei, ich wünschte mir die provokative Gründung: ATHEISTISCHE KIRCHE IN HAMBURG – KIRCHE DER VERNUNFT". (Großbuchstaben im Original)

Paul Schulz schreibt über den "Weg von seiner Fremdbestimmung durch Gott zu seiner Selbstbestimmung als autonomer Mensch", über den "Umbruch vom religiös bewegten Glauben zum Vernunft gesteuerten Denken" und von "Meine[r] Rationale[n] Geburt, wie ich diesen Umbruch später genannt habe." Letztere erinnert mich an 2 Kor 5,17: "Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur" und an Mitglieder fundamentalistischer Sekten, die sich als wiedergeborene Christen bezeichnen.

In geistlichen Dingen allein auf die Vernunft zu setzen, erscheint mir unzweckmäßig, ja unvernünftig. Ein abschreckendes Beispiel bot der Kult der Vernunft während der Französischen Revolution, über den man einiges z. B. bei Wikipedia nachlesen kann. Auch ist die Vernunft keineswegs in allem zuverlässig und brauchbar. Sie kann auf logische Probleme führen, aus denen es kein Entrinnen gibt: die sogenannten Aporien, d. h. Auswegslosigkeiten. Doch das nur nebenbei.

Liebe, Dankbarkeit, Freude an der Natur oder Musik – was haben sie mit der Vernunft zu tun? Und wenn jemand einem unbekannten Ertrinkenden hinterher springt, um ihn zu retten, evtl. dabei sogar das eigene Leben riskierend, handelt er nicht vernünftig. Ebenso wenig tut es jemand, der anhaltend einen Gutteil seiner freien Zeit Kranken, Einsamen und Hilflosen widmet. Ihn bewegen andere Gründe.

Rein vernünftiges Denken bedeutet den Verzicht auf Poesie, Wundersames, Märchenhaftes, woran immer noch manche, darunter Kinder, hängen.

Viele "aufgeklärte", "moderne" Menschen hängen an etwas anderem: an ihrem Handy. Ursprünglich nur zum Telefonieren gedacht, ist es durch Hinzunahme weiterer Funktionen zu ihrem ständigen Begleiter geworden und wird in fast jedem freien Moment benutzt. Ihm sind sie regelrecht verfallen und glauben, ohne es nicht wirklich leben zu können. Das Handy und die mit ihm aufgesuchten "Sozialen Medien" bilden ihre Welt.

Hinzu kommt: viele, nicht nur Jugendliche, ziehen sich Ringe durch die Nase und andere Körperteile, lassen sich tätowieren und tragen künstlich zerlumpte Kleidungsstücke. Sie folgen Moden, passen sich hemmungslos an bestehende Trends an. Von (individueller) Selbstverwirklichung kann bei ihnen nicht die Rede sein und von Rationalität schon gar nicht. Süchte und schädliche Verhaltensweisen, die früher unbekannt waren, sind an der Tagesordnung. – Im Bereich des Sozialen nehmen Ehe und Familie im herkömmlichen Sinn immer mehr ab, zugunsten anderer unübersichtlicher, instabiler Beziehungsformen. Viele Mütter erziehen ihre Kinder allein, wie es im und nach dem Zweiten Weltkrieg notgedrungen oft der Fall war. Unerwünschte Kinder werden massenhaft schon vor der Geburt, bisweilen auch danach, getötet. Ausländische Mitbürger und Besucher unseres Landes (Touristen, Flüchtlinge) werden aus einer längst überwunden geglaubten, primitiven Ideologie und Mordlust auf offener Straße angegriffen und überfallen.

Insgesamt steht in unserer Zeit dem gottgläubigen Menschen nicht allein der vernunftgesteuerte gegenüber, wie Paul Schulz meint, sondern auch der verantwortungslose, genuss- und triebgesteuerte. Dem scheint Schulz keine Beachtung zu schenken.

Weiter heißt es auf seiner Webseite: "Schon auf der Kanzel hatte ich wiederholt gefordert, dass die Menschen ihren Verstand auch in theologischen und in Glaubensfragen nicht an der Kirchentür abgeben dürften. Die Kirche brauche eine offene Kirchlichkeit, eine mündige Gemeinde, um Menschen in die Kirche zurück zu holen, die in ihrem Leben nicht mehr mit den alten Dogmen und Bekenntnisschriften zurechtkommen, ja, sie überhaupt gar nicht mehr kennen oder kennen wollen."

Paul Schulz hält sich viel darauf zugute, dass während seiner Tätigkeit als Pastor "Gemeindemitglieder in großer Zahl ohne diese Glaubensregeln neu in die Kirche kamen." An anderer Stelle heißt es bei ihm: "Zwei Hauptpastoren führten mit mir mehrere brüderliche Gespräche. Noch kein Prozess, eher ein Sühnetermin. Sie bewerteten anschließend unsere Gespräche positiv: Viele Menschen würden vielleicht mit Schulz den Weg in die Kirche zurückfinden."

Abgesehen davon, dass das mit dem Abgeben des Verstandes an der Kirchentür polemisch und dadurch unsachlich ist (und bis heute von Atheisten boshaft verwendet wird), übersah Paul Schulz, dass ein nicht geringer Teil der neu Hinzugekommenen aus dem politisch links stehenden Meinungsspektrum stammte. Es handelte sich bei ihnen keineswegs durchgehend oder mehrheitlich um enttäuschte Christen, sondern um solche, die vorher nie in einer Kirche waren. Ein "Weg zurück" war das bei ihnen sicher nicht. Wie sie selbst erklärten, wollten sie in Staat und Gesellschaft einen revolutionären Umsturz herbeiführen und strebten dazu den, wie sie es nannten, "Marsch durch die Institutionen" an, der ihnen leider auch in beträchtlichem Maße gelang. Dabei hatten sie außer der Kirche auch die Schulen, Universitäten und das Justizwesen im Auge. Sie setzten, nicht selten gewaltsam, Lehrer und Professoren unter Druck und organisierten zum Teil bizarre Massendemonstrationen. Wenig von der Öffentlichkeit bemerkt, wurde ihr "revolutionärer Kampf" von uns feindlich gesinnten, äußeren Mächten mitfinanziert.

Die meist Jugendlichen, Verblendeten orientierten sich statt an der Bibel am programmatischen Büchlein eines fernöstlichen Diktators. Dieser hatte in seinem Land eine sogenannte Kulturrevolution angezettelt, der eine bis zwei Millionen vor allem ältere Menschen zum Opfer fielen, denunziert von den eigenen Kindern und Enkeln. Daran wird heute, da ich dies schreibe, fünfzig Jahre später, erinnert. Ein Teil der neuen Kirchenbesucher gehörte vermutlich auch zu denen, die auf den Straßen den Namen eines anderen Machthabers skandierten, den sie verehrten.

Bei Paul Schulz liest man von alledem nichts. Über damit weitläufig zusammenhängende Vorgänge in seiner Studentengemeinde im Jahre ’69 schreibt er nur kurz: "Heiße Zeiten". – Es scheint so, dass der Ex-Pastor, als er noch in der Ausbildung und später in seinem Amt war, gewisse Zweifel an seiner Linie verspürte, doch blieb er bei ihr, weil er seine Zuhörer nicht enttäuschen und an ihnen keinen "Vertrauensbruch" begehen wollte.

*

Trotz seiner Abkehr von Gott hatte sich Paul Schulz einen Rest seines ehemaligen Glaubens bewahrt, als er über Jesus schrieb:

"Immer wieder bin ich zurückgekommen, weil mich die Tiefe seiner Menschlichkeit bis in die letzte Konsequenz fasziniert und zurückgeholt hat. In diesem Sinne bin ich – von Mensch zu Mensch – immer noch überzeugter Jesuaner."

Abgesehen davon, dass "Jesuaner", anders als "Jesuit", ein wenig gebräuchlicher, schlecht erklärter Begriff ist1: wer Jesus lediglich "von Mensch zu Mensch" begegnet, lässt Wesentliches außeracht: Jesu Sündlosigkeit, seinen freiwilliger Opfertod, seine Auferstehung von den Toten und Rückkehr zu Gott, der ihn gesandt hatte. Das glaubte einst auch Paul Schulz. Was ihm als jungem Menschen von seinen Lehrern und Zensoren angetan wurde, und der in ihm verbliebene schwache Glaubensfunke (wie ich ihn sehe) erinnern mich an die beiden Bibelstellen Jesaja 42,3 und Matthäus 12,20 vom geknickten Rohr und glimmenden Docht. Auf den Glauben angewandt, bedeuten sie: unterdrückt und nahezu erloschen, geht er nicht ganz zugrunde und kann sich wieder neu entfalten.

1 Nach längerem Suchen im Internet fand ich dies: "Jesuanische Bewegung - Anhängerschaft Jesu in vorpaulinischer Zeit". (Quelle, sehr reichhaltiges religiöses Begriffslexikon)

Ergänzung:
Gegen die heutzutage an den Universitäten verbreitete Art von Bibelauslegung ohne den Glauben an Gott richten sich ein kritisches Interview und eine spöttische Kurzgeschichte.

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