Ergänzung zum Thema "Zufall"

Als zufällig bezeichnen wir Ereignisse, die uns überraschen oder die sich, wenn sie öfter auftreten, nicht exakt voraussagen lassen. Ein Beispiel ist das Werfen eines idealen, d. h. gleichmäßig geformten, nicht in betrügerischer Absicht manipulierten Würfels. Wenn man mit ihm etwa eine Sechs geworfen hat, tritt sie beim nächsten Wurf nicht mit Sicherheit nochmals auf, sondern nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, und dasselbe gilt für die übrigen Augenzahlen. Jede von ihnen besitzt die gleiche Wahrscheinlichkeit, nämlich ein Sechstel. Notiert man demgemäß eine größere Anzahl aufeinander folgender Würfelergebnisse, bilden die unregelmäßig erhaltenen Augenzahlen Eins bis Sechs eine sogenannte Zufallsfolge.

Solche Zufallsfolgen treten auch bei bestimmten Zahlen in der Mathematik auf. Das sind die, die nicht wie ⅓ oder ⅞ oder irgendein anderer Bruch durch Division zweier ganzer Zahlen entstehen und bei denen sich die Nachkommastellen periodisch wiederholen.

Zahlen mit nichtperiodischer Dezimaldarstellung heißen "irrational". Zu ihnen gehört die vermutlich vielen noch aus der Schulzeit bekannte "Kreiszahl", die mit dem griechischen Buchstaben π abgekürzt wird und ungefähr 3,14 beträgt. Sie hat unendlich viele Nachkommastellen, von denen man in den letzten Jahren mit Supercomputern mehrere hundert Milliarden berechnen konnte, was aber, so beeindruckend es sein mag, angesichts der Unendlichkeit immer noch wenig, genau genommen, rein gar nichts ist.

Die bisher erhaltenen Nachkommaziffern von π weisen wie beim Würfeln keinerlei Regelmäßigkeit auf, und es wird vielfach angenommen, dass das bei allen anderen, die nicht bekannt sind und nie bekannt sein werden, auch so sein wird.

Fehlende Regelmäßigkeit bedeutet nun nicht nur, dass die Ziffern 0 bis 9 im Schnitt gleich oft vorkommen, d. h., dass keine von ihnen auf die Dauer unter- oder überrepräsentiert ist, sondern dass das auch für beliebig geformte, kürzere oder längere Ziffernfolgen wie 123, 98765 oder 459107777753 gilt. Auch sie sollen im Schnitt gleich oft in den Nachkommastellen von π enthalten sein.

Dies suchte Herr Professor Thomas Weth, Universität Erlangen-Nürnberg, in einem öffentlichen Vortrag über das Wesen des Unendlichen, dessen Manuskript auch im Internet zu finden ist [1], seinen Zuhörern anhand verblüffender Beispiele zu verdeutlichen. Dort heißt es auszugsweise:

"... Aus der Irrationalität folgt, dass die Dezimalbruchentwicklung von π nicht abbricht und keine Periodizität aufweist. Von π weiß man zudem, dass es eine normale Zahl ist, d.h.: jede gleichlange Zahlenfolge kommt mit gleicher Wahrscheinlichkeit in der Ziffernfolge von π vor." ... "Und diese Eigenschaft hat erstaunliche und bemerkenswerte Konsequenzen. Jede Dezimalzahl  – also auch ein beliebig genauer Näherungswert von π – lässt sich binär – also computerlesbar – darstellen. Gleiches gilt für Buchstaben und Wörter.
Damit kommt z.B. das Geburtsdatum jedes einzelnen Menschen (ohne Trennzeichen geschrieben) irgendwo in π vor" ... "Aber auch längere als nur 6-stellige Zeichenkombinationen kommen in π vor: So findet sich z.B. jedes beliebige Buch, das je geschrieben wurde – in jeder fehlerhaften Form bis hin zur fehlerfreien Version – in π. Da sich auch Bilder digitalisieren – als 0-1-Folgen - darstellen lassen, findet sich auch IHR Passbild in π." ... "Oder Bilder, die Sie an ihrem persönlichen letzten Schultag zeigen. Und mit Sicherheit auch das Bild, das Sie an ihrem letzten Arbeitstag zeigt: egal was kommen wird: π hält bereits das passende exakte Bild parat. Und nicht nur das: Filme lassen sich auf DVDs brennen, also als endlich lange Folge von Nullen und Einsen codieren. Also finden sich in π auch alle Filme, die jemals gedreht wurden oder gedreht werden." ... "Und in π findet sich auch ein Film, der IHR persönliches ganzes Leben von der ersten bis zu dieser Sekunde original so zeigt, als wäre eine Kamera die ganze Zeit neben Ihnen hergeschwebt und hätte Sie gefilmt. ..."

Das klingt phantastisch – zu phantastisch, und das ist es auch. Es ist nämlich falsch.

Anders, als oben zu lesen, weiß man gerade nicht, dass π normal ist; die Forschung darüber hält an. Zahlreiche Internetseiten bringen dies zum Ausdruck, z. B. hier [2] und [3]. Mehrfach heißt es darin, man sei dem angestrebten Nachweis in den letzten Jahren ein gutes Stück nähergekommen; doch reicht das zur Begründung der wiedergegebenen, fast gespenstisch wirkenden Folgerungen nicht aus. Dies betrifft insbesondere das eigene "Passfoto" und den "Lebensfilm" für jeden einzelnen Menschen innerhalb der Dezimalen von π. Nichts spricht gegenwärtig (d. h. Anfang 2009) für ihr Vorhandensein.

Sollte es doch es eines Tages gelingen, die vermutete Normalität der Kreiszahl zu beweisen, ist noch folgendes zu bedenken: Zu jeder "in π enthaltenen" Aussage gäbe es dann auch ihre Negation. Persönliche Eigenschaften, dazu Orte und Zeiten, ausgeführte und unterlassenene Handlungen usw. fänden Alternativen, die ebenfalls irgendwo versteckt wären. Manche Details, in ihrem Auftreten gleichwahrscheinlich, würden sich widersprechen und gegenseitig aufheben.[1a] Klare, zuverlässige Informationen, die über Triviales hinausgehen, wären dadurch nicht zu erwarten. Das bedeutet: ob die Kreiszahl normal ist oder nicht – in beiden Fällen spielt sie weder für die Betrachtung von Vergangenem noch für Zukünftiges eine Rolle.

Bei oberflächlicher, nicht genügend durchdachter Lektüre der oben teilweise zitierten Ausführungen von Herrn Professor Weth könnte der Eindruck entstehen, als wäre unser Schicksal in den Dezimalen von π gewissermaßen gespeichert und durch sie vorherbestimmt. Es liegt jedoch, bildlich gesprochen, in Gottes Hand. Anzunehmen, dass die Wechselfälle des Lebens, der Zeitpunkt und die Umstände des Todes von den Eigenschaften irgendwelcher Zahlen abhängen, ist reiner Aberglaube.

Anmerkung: Verwandt mit der obigen Behauptung über die Dezimalziffern von π (dass diese "jedes beliebige Buch" enthalten) ist das "Theorem der endlos tippenden Affen", beschrieben u. a. in [4].

[1] Unendlich viel unendlich Kleines – über die Struktur des Unendlichen
[1a] Die Seite [1] war im März 2015 nicht mehr anklickbar. Erhalten blieb diese. In ihr kommt auf Seite 5 der oben auszugsweise zitierte Text vor. Er enthält folgenden Zusatz, der in [1] fehlte: "Und eine Version gibt’s mit Sicherheit, in welcher Sie vor vier Jahren bereits gestorben sind und - tröstlich? - eine andere, in der Sie noch 100 Jahre leben." Das entspricht dem, was ich über Widersprüchliches in den Dezimalen von π schrieb.
[2] Wie zufällig ist die Kreiszahl Pi? Ist Pi "normal"?
[3] Wie normal ist Pi? - Rätsel um die dritte Eigenschaft der Kreiszahl
[4] Infinite-Monkey-Theorem (Wikipedia)
Mit der vermuteten Normalität von π beschäftigt sich auch dieser Artikel auf der Wissenschaftsseite von SPIEGEL Online.
Unter den ersten 1000 Dezimalstellen von Pi gibt es einmal sechs Neunen hintereinander ("Feynman-Punkt"), und hier wird auf dem "Matheplaneten" über siebzehn direkt aufeinander folgende Sechsen berichtet. Jedesmal geht es dann unregelmäßig weiter.

Noch eine Ergänzung

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