Gideon – ein Vorbild?

Im Januar 2015 hielt Pastor Olaf Latzel in der Bremer St.-Martini-Kirche eine Predigt, die im außer- wie im innerkirchlichen Bereich auf Kritik und Ablehnung stieß.1) Hier kann sie als Tondokument im Wortlaut angehört werden. Zu lesen ist sie hier.

Im folgenden gebe ich ihren Inhalt mit eigenen Worten (und in groben Zügen) wieder und kommentiere sie anschließend.

Die Predigt ist der "Reinigung" des "eigenen Hauses" von unchristlichen Gegenständen, Symbolen und Denkweisen gewidmet und richtet sich sowohl gegen den Glauben der Muslime in unserer Nachbarschaft wie gegen gewisse religiöse Praktiken bei den Katholiken.

Ausgangspunkt ist der alttestamentarische Bibelstelabschnitt Richter 6,25-32. Dort wird geschildert, wie der Richter Gideon2) auf göttliche Anweisung den Altar des heidnischen Gottes Baal niederreißt und eine Kultsäule der Göttin Aschera verbrennt.

Gideon fürchtet sich vor seiner Familie und den Leuten in der Stadt und führt den erhaltenen Auftrag heimlich bei Nacht aus. Am folgenden Morgen wird er von den Baalsanhängern zur Rede gestellt und mit dem Tode bedroht, doch greift sein Vater Joasch ein. Er fragt Gideons Gegner: "Wollt Ihr etwa für Baal streiten?" und bedroht sie seinerseits damit, dass sie in diesem Fall noch am selben Tag sterben müssten. Daraufhin lenken sie ein und geben Gideon sogar für seine Tat einen besonderen Ehrentitel.

Auf dieser Grundlage gliederte Pastor Latzel seine Predigt in fünf Bereiche:

Auftrag zur Reinigung – die Reinigung selbst – die Angst dabei vor anderen – Angriffe gegen den, der reinigt – die Hilfe vom Vater, d. i. letztlich Gott.

Die Predigt, anfangs ruhig und ihrer Art angemessen, nimmt im weiteren Verlauf an Tempo und Schärfe zu; der Ton wird (so empfinde ich es) zeitweise geradezu schneidend. Aber noch unangenehmer ist die Wortwahl des Pastors. Das "Zuckerfest" der Muslime bezeichnet er als "Blödsinn" und Wallfahrten, Ablassversprechungen, Reliquienkult der Katholiken als "Dreck", ihre Lehre als "ganz großen Mist".


Von einem Pastor gesagt, finde ich das unakzeptabel. Wir leben nicht mehr in der Zeit Martin Luthers, der sich oft recht derb ausdrückte (und außerdem, was viele nicht wissen, ein großer Judenfeind war). Es missfällt mir auch, wenn es in der Predigt salopp heißt, König Salomo habe sich von seinen Frauen "bequatschen" lassen. Das ist zu kurz, um der damaligen Problematik mit dem fremden Götterkult gerecht zu werden, und außerdem sprachlich primitiv.3)

Es gibt Schädliches und Gefährliches im Denken und Handeln vieler Menschen in unserem Land, gewiss, und es ist nötig, dagegen anzugehen; aber Pastor Latzel wählt den falschen Weg und schießt über das Ziel hinaus.

Würde man Gideon folgen, wäre es konsequent, nicht nur Moscheen, sondern auch mit Heiligenfiguren und Engeln überladene Barockaltäre zu zerstören sowie vor allem im Süden stehende Mariensäulen und -bilder umzustürzen.4) Beides aber kann keiner von uns wollen, und Pastor Latzel hat auch nicht dazu aufgefordert.5) Dennoch sieht er, im Gegensatz zu mir, den alttestamentarischen Richter offenbar als Vorbild an.

In muslimischen Ländern und im hinduistischen Indien werden christliche Altäre geschändet und Kirchen niedergebrannt. Das ist, im Grunde genommen, nichts anderes, als Gideon tat.6)

Im fünften Teil seiner Predigt behauptete Pastor Latzel, wiederum in Analogie zu Gideon, dass Gott diejenigen, die für den rechten Glauben eintreten, schützen werde. Dabei widersprach er, offenbar unbewusst, durch ein Gegenbeispiel sich selbst. Er erwähnte einen mutigen Pastor während der Nazizeit, der wegen seines Widerstandes bei der Beerdigung eines Hitlerjungen verhaftet und im KZ Buchenwald totgeschlagen wurde. Ihm wurde Gottes rettende Hilfe nicht zuteil.

Von ihr ist auch bei unseren weltweit verfolgten, vertriebenen und vom Tode bedrohten Glaubensgeschwistern oft nichts zu spüren.

Gott greift nicht immer und überall ein, um Leben und Freiheit zu retten. Er entscheidet autonom. Seine Gründe und Absichten (wenn man das mit menschlichen Worten so ausdrücken darf) sind uns nicht bekannt; das steht in der Bibel.7) Wir können aber anteilnehmend an die aus Glaubensgründen Verfolgten und Entrechteten denken, für sie beten und darauf hoffen, dass die Verfolger, Sklavenhalter und Mörder sich ändern und von ihrem schändlichen Tun ablassen. Das kann durch den Geist Gottes, den Heiligen Geist, geschehen. In unserem eigenen Land wissen zu wenige von ihm und von den Geboten. Es fehlt an Mitgefühl für andere und an Solidarität mit ihnen; Gleichgültigkeit und Egoismus herrschen vor. Bei den österlichen sogenannten "Friedensdemos" mit eng begrenzter Teilnehmerzahl und einseitig politischem Akzent spielen die unterdrückten, vertriebenen und ermordeten Christen keine erkennbare Rolle.

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Gideons religiöse Unduldsamkeit war nicht nur typisch für das alte Israel. Es gab und gibt sie auch in anderen Ländern und zu allen Zeiten, und sie forderte unzählige Menschenleben. Auch bei uns existiert sie zum Teil, wie das Bremer Beispiel zeigt. Diese falsche, verderbliche Haltung abzumildern: darum muss man sich, meine ich, bemühen. Lasst uns doch so an Gott glauben, wie wir es gewohnt sind, und die anderen auf ihre Weise!8) Der christliche Glaube enthält eine Einladung9). Er ist ein Angebot, ein Geschenk, das niemandem aufgedrängt werden darf.

Toleranz bedeutet vom Wort her, es zu ertragen, dass andere nicht so glauben wie man selbst. Sie darf nicht so weit gehen, dass aufhetzende Reden und gewaltsame Handlungen geduldet werden. Auch von unsinnigen Vermischungen ist abzuraten wie etwa, dass in einer christlichen Gemeinde für eine Moschee Geld gesammelt wird oder in einer Kirche ein Imam seinen, für manche erschreckend fremdartigen "Allah"-Ruf ertönen lässt. Derartiges führt leicht zu Unfrieden und Streit, siehe zum Beispiel hier und hier.10)

Überheblichkeit11) in Glaubensdingen, religiöser Fanatismus sind schwere Sünden. Oft genug gab es durch sie, auch im Christentum, Verstöße gegen das Fünfte Gebot: "Du sollst nicht töten!" Auch ohne Massenmorde kam es zu Zwangstaufen, die nur eine scheinbare, äußerliche Übernahme eines neuen, fremden Glaubens zur Folge hatten, zu Ausweisungen ganzer Bevölkerungsteile aus der angestammten Heimat und zu Religionskriegen, an die bis heute mit Scham gedacht wird.

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In der Predigt kritisierte Pastor Latzel seinen Amtsvorgänger Jens Motschmann12), der sich in einem Artikel zustimmend zum Projekt "House of One" geäußert haben soll.13) Mit "One" ist der Eine, Einzige Gott gemeint, an den in den drei genannten Religionen, wenn auch verschieden, geglaubt wird. (Anm.: zum Stichwort "House of One" gibt es viele weitere Internetseiten.)

Hierbei sei noch auf die von April bis September 2015 im Berliner Bode-Museum laufende Ausstellung "Ein Gott" hingewiesen. Sie dokumentiert das friedliche Zusammenleben von Christen, Juden und Moslems über Jahrhunderte in Ägypten.

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1) Die Bremer Staatsanwaltschaft untersuchte dem Vernehmen nach die Predigt auf mögliche volksverhetzende Passagen. Was daraus geworden ist, weiß ich nicht.
2) Richter waren im alten Israel nicht nur Rechtsprecher, sondern auch Volks- und Heerführer. Der Name Gideon bedeutet auf deutsch "(Zer)hacker", Zerstörer.
3) Auch rein sachlich ist es nicht in Ordnung. Die Israeliten hatten anfangs keinen König wie die umgebenden Völker und wollten auch keinen haben. Ihr höchster Herrscher war Gott. Erst Generationen später änderten sie ihren Sinn und bekamen Könige, zum Teil mit üblen Nebenwirkungen. Gideon lebte vor König Salomo und hatte mit ihm nichts zu tun. - Sehr irritierend, um auf das Sprachliche zurückzukommen, ist in der Predigt der häufige Gebrauch des Wortes "nicht", wohl im Sinne von "nicht wahr?" Es begegnet einem über fünfzig Mal (!) und hindert, besonders beim Lesen der Predigt, das zügige Verständnis. Immer wieder wird man aufgehalten, um zu überlegen, was "nicht" im jeweiligen Moment gerade bedeutet: Verneinung des soeben Gesagten oder ein überflüssiges Füllwort und Anzeichen innerer Unsicherheit.
4) Eine Auswahl s. hier.
5) Mit solchen Aktionen würden wir manchen Atheisten eine Freude machen, denen schon das sonntägliche Glockenläuten zuviel ist, und die sich darüber aufregen.
6) Ähnlich wie einst bei Gideon werden heute (2015) vom IS Christen als "Götzendiener" bezeichnet. Die im Laufe der Jahrtausende immer wieder aufgeflammte Verachtung Andersgläubiger nimmt kein Ende.
7) "Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR." - Jesaja 55:8
8) Für die drei weltweit verbreiteten, sogenannten "abrahamitischen" Religionen gibt es nur einen Gott, doch machen sie sich unterschiedliche Vorstellungen von ihm. Zwei von ihnen, die Juden und die Muslime, glauben nicht, dass Gott einen Sohn hat.
9) Jesus Christus spricht: "Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken." - Matthäus 11,28
10) Anm.: die Seite von "PI", zu der auf der letztgenannten Seite als Quelle verwiesen wird, las ich nur ausnahmsweise.
11) Der Überheblichkeit entgegengesetzt ist das Gefühl, jemandem unterlegen zu sein. Das trat nach der Bibel zum ersten Mal bei einem der beiden Söhne von Adam und Eva auf. Kain glaubte, dass Gott das Opfer seines Bruders Abel gnädiger annahm als sein eigenes, und deshalb erschlug er ihn. Es war der erste Brudermord, und zwar einer aus religiösem Motiv!
12) Über ihn s. hier und (auf meiner HP) hier, Fußnote 3a.
13) Den Artikel konnte ich trotz intensiver Suche im Internet nicht finden. Wie Pastor Motschmann über das House of One denkt, wird hier, zum Teil wörtlich, wiedergegeben.

Exkurs: Verwüstete Gotteshäuser

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