Johann Peter Hebel, ein Dichter und Liebhaber von Naturwissenschaft und Mathematik

  (Bild aus Wikipedia)

 

Johann Peter Hebel ist, wenn überhaupt, vor allem als Dichter bekannt. Er wurde 1760 in Basel geboren und starb 1826 in Schwetzingen. Eine seiner Besonderheiten war, daß er über vierzig Gedichte in alemannischer Mundart schrieb, die hier , so heißt es, vollständig wiedergegeben sind. Auch Norddeutsche können Teile davon mit etwas Einarbeitung recht gut verstehen.

Berühmt und beliebt wurde Hebel außerhalb des heimatlichen Sprachgebietes durch seine hochdeutsch geschriebenen Kalendergeschichten. Wer hat nicht schon mal von dem reichen-armen Herrn Kannitverstan gelesen oder vom Müller von Sanssouci, über den auch Johann Peter Hebel in einer Erzählung berichtete – übrigens historisch falsch, weil sie, was damals nicht jeder wußte, auf friederizianisch-preußischer Propaganda beruhte.

Die allerkürzeste Kurzgeschichte, die ich kenne, stammt auch von ihm. Sie lautet:
 Ein Büblein klagt seiner Mutter: "Der Vater hat mir eine Ohrfeige gegeben." Der Vater aber kam dazu und sagte: "Lügst du schon wieder? Willst du noch eine?"

Es gab damals mehrere sogenannte Land-, Volks- oder Jahreskalender, die neben amtlichen Bekanntmachungen, Feiertagsregelungen, Hinweisen für die Landwirtschaft, Wettervorhersagen usw. mehr oder weniger erbauliche Erzählungen enthielten und oftmals die einzige Lektüre der Bauern und Arbeiter bildeten. Ein solcher Kalender war zur Zeit Hebels und in seiner Gegend der Badische Landkalender. Dessen Geschichten waren meist ziemlich langweilig. Man konnte sie in anderen Druckwerken dieser Art praktisch unverändert lesen, und sie wiederholten sich öfter. Der Grund hierfür war, daß die Redakteure nicht einfallsreich und vermutlich auch nicht fleißig genug waren und anstatt selber Geschichten zu erfinden, hemmungslos von anderen abschrieben. (Das war allgemein üblich; es gab noch kein Copyright.) Dies ärgerte J. P. Hebel, und als er sich eines Tages bei der Redaktion des Badischen Landkalenders beschwerte, machte man ihm dort den Vorschlag, er solle doch eigene Geschichten für ihn schreiben. Hebel ging darauf ein und wurde praktisch über Nacht zum alleinigen Herausgeber des Kalenders, der unter seiner Regie zum erfolgreichsten Jahrbuch weit und breit wurde.

Hebels Tätigkeit für den Badischen Landkalender unter dem neuen Namen "Der Rheinländische Hausfreund" dauerte von 1806 bis 1819. In Buchform erschienen die Geschichten für sich – es sind, wenn ich recht gezählt und alle erwischt habe, knapp hundertdreißig – 1811 unter dem Titel "Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreunds" und werden bis heute mehr oder weniger vollständig sowohl im Buchhahndel wie im Internet angeboten. Sie handeln von einfachen und "hochstehenden" Menschen, von Wirten, Dieben, (betrogenen) Betrügern, hartherzigen Herren, klugen Frauen und Mädchen, von Fürsten und Königen, und sie haben meistens eine lustige oder nachdenklich stimmende Pointe. Nicht selten liefern sie auch eine nützliche "Moral". Bei allen zeigt sich Hebel als verständnis- und liebevoller Menschenfreund; nur einige wenige Geschichten, wie etwa die einer geheimnsivollen Hinrichtung, gehen grauslich aus.

Von klein auf liebte und beobachtete Hebel die Natur: die Pflanzen und Tierwelt, Sonne Mond und Sterne. Er studierte Theologie und im Rahmen dieses Studiums auch Alte Sprachen. Danach war er zunächst als Lehrer für verschiedene Fächer tätig, darunter Mathematik  – ich komme am Ende dieses Artikels noch einmal darauf zurück – und wurde später an der Karlsruher Hochschule Professor für Hebräisch, Latein, Griechisch und Naturwissenschaften. Hebel war also nicht nur ein dichterisch begabter, sondern auch ein vielseitig gelehrter Mann.

Er war ein Kind der Aufklärung. Diese im 17. Jahrhundert in England und Frankreich entstandene, geistige und kulturelle Bewegung hatte zum Ziel, die in weiten Teilen der Bevölkerung bestehende Unwissenheit zu beseitigen, ebenso schlechte, schädliche Sitten und Gebräuche in allen Gesellschaftsschichten, einschließlich des Adels. Wegen des über ein Jahrtausend andauernden Machtmißbrauchs durch die Kirche, der mit zu diesen Übelständen geführt hatte, trug die Aufklärung zeitweise starke antiklerikale und antireligiöse Züge. Ihre Anhänger setzten, wie sie es nannten, auf die Vernunft. Während der Französischen Revolution, die bekanntlich in einem Blutbad endete und die Kaiserherrschaft Napoleons zur Folge hatte, gab es einen regelrechten, überzogenen Vernunftkult, bei dem alles Religiöse verboten war und verfolgt wurde.

In Deutschland ging man nicht so extrem vor. Hier gab es unter den Aufklärern mehrere, die durchaus zu unterscheiden wußten zwischen dem christlichen Glauben und seiner Verfälschung durch die Kirche. Zu ihnen gehörte Johann Peter Hebel. Trotz kritischer Distanz zu bestimmten kirchlichen Erscheinungen und Vorgängen glaubte er an Gott. Dies kommt auch in Teilen seines dichterischen Werkes zum Ausdruck.

Seine aufklärerischen Absichten in Bezug auf die Naturwissenschaften werden vor allem im "Schatzkästlein" deutlich. Leider sind die Quellen im Internet hierzu wenig ergiebig. Durch einen glücklichen Zufall erhielt ich im Juli oder August dieses Jahres als Gratisbeilage der Computerzeitschrift c't eine CD mit dem Titel "100 Romane, die jeder haben muß". Sie enthält anscheinend alles von Hebel aus dem Rheinländischen Hausfreund, darunter das Folgende:

- Allgemeine Betrachtung über das Weltgebäude  
- Die Erde und die Sonne
- Die Planeten
- Die Kometen
- Die Fixsterne.

Es ist klar, daß Hebel in seinem Kalender zwischen all' die zum Teil schnurrigen Geschichten, Lebensweisheiten und "Nützlichen Lehren" keine wissenschaftlichen Abhandlungen einfügen konnte, wie sie zum Gymnasium passen oder für die  Hochschule typisch sind. So schrieb er für sein meist einfaches, wenig gebildetes Leserpublikum ebenfalls einfach und sehr anschaulich, ohne deshalb primitiv zu sein und dadurch verfälschend zu wirken. Das war gerade seine große Kunst, die er blendend beherrschte.

Aus der großen Fülle einschlägiger Beispiele greife ich das folgende im Artikel über die Erde und die Sonne heraus:

Denn zweitens: die Sonne, so nahe sie zu sein scheint, wenn sie früh hinter den Bergen in die frische Morgenluft hinauf schaut, so ist sie doch über zwanzig Millionen Meilen weit von der Erde entfernt. Weil aber eine solche Zahl sich geschwinder aussprechen, als erwägen und ausdenken läßt, so merke: Wenn auf der Sonne eine große scharf geladene Kanone stünde, und der Konstabler, der hinten steht und sie richtet, zielte auf keinen andern Menschen als auf dich, so dürftest du deswegen in dem nämlichen Augenblick ein neues Haus bauen, und könntest: darin essen und trinken und schlafen, oder du könntest ohne Anstand noch geschwinde heiraten, und Kinder erzeugen und ein Handwerk lernen lassen, und sie wieder verheiraten und vielleicht noch Enkel erleben. Denn wenn auch die Kugel in schnurgerader Richtung und immer in gleicher Geschwindigkeit immer fort und fort flöge, so könnte sie doch erst nach Verfluß von 25 Jahren von der Sonne hinweg auf der Erde anlangen, so doch eine Kanonenkugel einen scharfen Flug hat, und zu einer Weite von 600 Fuß, nicht mehr als den sechzigsten Teil einer Minute bedarf.

Hebel erklärt in demselben Artikel und in der gleichen anschaulichen Weise das Zustandekommen der Jahreszeiten durch die Schrägstellung der Erdachse (mit Gradangabe) und vieles mehr. Interessant mag uns Heutigen erscheinen, wie Hebel ein Problem darstellt, das den Wissenschaftlern seit dem 18. Jahrhundert Kopfzerbrechen bereitete und erst im zwanzigsten gelöst werden konnte:

Lange nun glaubten selbst die gelehrtesten Sternforscher, diese ganze unermeßliche Sonnenmasse sei nichts anders, als eine glühende Feuerkugel durch und durch. Nur konnte keiner von ihnen begreifen, wo dieses Feuer seine ewige Nahrung faßt, daß es in tausend und aber tausend Jahren nicht abnimmt, und zuletzt, wie ein Lämplein verlöscht; denn die gelehrten Leute wissen auch nicht alles, und reiten manchmal auf einem fahlen Pferd.
...
Deswegen will es nun heutzutag den Sternforschern und andern verständigen Leuten scheinen, die Sonne könne an sich wohl wie unsere Erde ein dunkler und temperierter, ja ein bewohnbarer Weltkörper sein. Aber wie die Erde ringsum mit erquickender Luft umgehen ist, so umgibt die Sonne ringsum das erfreuliche Licht, und es ist nicht notwendig, daß dasselbe auf dem Sonnenkörper selbst eine unausstehliche zerstörende Hitze verursachen müsse, sondern ihre Strahlen erzeugen die Wärme und Hitze erst, wenn sie sich mit der irdischen Luft vermischen, und ziehen dieselbe gleichsam aus den Körpern hervor. Denn daß die Erde eine große Masse von verborgener Wärme in sich selbst hat, und nur auf etwas warten muß, um sie von sich zu geben, das ist daran zu erkennen, daß zwei kalte Körper mitten im Winter durch anhaltendes Reiben zuerst in Wärme, hernach in Hitze, und endlich in Glut gebracht werden können. ...

In dem Artikel über die Planeten erklärt er sehr ausführlich und wiederum anschaulich-launig, was diese sind und schreibt unter anderem, nachdem er vorher die Fixsterne behandelte:

Nur mit sehr wenigen andern, welche man Irrsterne oder Planeten nennt, hat es auch eine andere Bewandtnis. Diese behalten nicht ihre gleichförmige Stellung gegen die andern. Wenn der Planet, Jupiter genannt, heute nacht zwischen zwei gewissen Sternen steht, so steht er von heute übers Jahr nicht mehr zwischen den nämlichen, sondern an einem andern Ort. Es ist, als ob diese Sterne für Kurzweil bei den andern herumspazierten, ihnen gute Nacht oder guten Morgen brächten, und sich um die Zeit und Stunde nicht viel bekümmerten. Aber sie haben ihre Ordnung so gut wie die übrigen, nur eine andere.

Etwas später fährt er fort, weil besonders in der ländlichen Bevölkerung in Hinblick auf die Planeten noch viel Abergläubisches vorherrschte:

Mißlich muß es daher auch um die Behauptung stehen, daß unsere Erde abwechselnd von den Planeten regiert werde, oder daß Witterung, Fruchtbarkeit und andere Dinge von ihnen herrühren, ob man gleich die Erfahrung haben kann, daß je nach sieben Jahren manches wieder so kommt, wie es sieben Jahre früher war. Denn
1. sonst müßte ein Planet den andern regieren, weil ja unsere Erde selber ein Planet ist, und solche Unordnung wird in dem Reich der Weltkörper nicht statuiert;
2. so müßte unsere Erde auch die andern Planeten hinwiederum regieren, und das kann nicht sein, sonst müßten wir auch etwas davon wissen.

Danach beschreibt er die Planeten einzeln, auch quantitativ (Größe, Abstand von der Sonne, Jahreslänge), geht auf die Venus als Morgen- und Abendstern ein und setzt über sie fort:

Dieser Stern ist der einzige unter allen, der nicht nur aus der Ferne uns seinen Schimmer zeigt, sondern sogar einige Helle auf der Erde verursacht, und daher auch einen Schatten wirft.

Das wissen nicht viele, und ich selber wußte es auch nicht.

Weiter liest man:

Auch ist das Licht des Abendsterns nicht immer gleich. Oft strahlt er im schönsten Glanze, oft wieder blasser, und scheint sogar kleiner zu sein. Aber die Sternkundiger haben schon lange durch ihre Ferngläser die Ursache davon entdeckt. Die Venus hat nämlich, von der Erde aus betrachtet, ihr zu- und abnehmendes Licht wie der Mond, und dies ist sehr begreiflich. Denn da sie eine große Kugel ist, und also nur die eine Hälfte derselben von der Sonne erleuchtet sein kann, während es auf der andern Nacht und stockfinster ist, so kann es oft geschehen, daß sich nur die Hälfte, ja weniger, von ihrer erleuchteten Seite gegen die Erde kehrt.

Ist das alles nicht sehr schön geschrieben, vor allem auch wegen der Sprache?

Ich finde es schade, daß die auf der genannten CD enthaltenen naturwissenchaftlichen Texte Johann Peter Hebels im Internet allem Anschein nach nirgends zu finden sind. Gewiß macht es viel Mühe, sie einzuscannen, aber kann es nicht auch sein, daß hier ein gewisser Hochmut mitspielt, der sich in selbstgefälligen Aussprüchen wie "In Mathe war ich immer schlecht" und "Physik konnte ich nie leiden" wiederfindet? Im übrigen fehlen in den Internetausgaben von Hebels Hausfreund-Geschichten, die mir auffielen, auch Beiträge zur belebten Natur: über Raupen, Spinnen und Schlangen, über Eidechsen und den Maulwurf, ja sogar über Fliegende Fische!

Damit geht mein notwendigerweise unvollständiger und lückenhafter Bericht über den dichtenden Naturkenner und -lehrer Hebel langsam seinem Ende entgegen. Erwähnen möchte ich nur noch, daß das "Schatzkästlein" auch Mathematikaufgaben enthält, die man, als ich jung war, "eingekleidet" nannte und heute Textaufgaben nennt. Eine begegnete mir als Mathelehrer, wobei ich nicht wußte, daß sie von Hebel ist. Die Geschichte handelt vom Teufel und einem Faulpelz, der von diesem um sein Geld betrogen wird; vielleicht kennen sie einzelne Leserinnen und Leser hier auf dem MP.

Eine andere von Hebels Textaufgaben zitiere ich in vollem Wortlaut:

Ein Mann hatte sieben Kinder zu einem Vermögen von 4900 fl. Da gingen ihn die jüngern Kinder öfters an, eine Verordnung darüber zu machen, damit sie in der Teilung nach seinem Absterben mehr bekommen sollten, als die ältern. Das kam dem guten Vater hart an, weil er eines von seinen Kindern liebte wie das andere, und weil er glaubte, Gott werde den jüngern, wenn sie fleißig und gut gesittet seien, nach seinem Tode helfen, wie er den ältern bei seinen Lebzeiten geholfen habe. Weil sie ihm aber keine Ruhe ließen, und die ältern Brüder es auch zufrieden waren, so machte er folgende Verordnung: Der älteste Sohn soll von dem ganzen Vermögen 100 fl. zum voraus haben, und von dem übrigen den achten Teil. Der zweite soll alsdann 200 fl. wegnehmen, und von dem übrigen wieder den achten Teil. Der dritte soll 300 fl. von dem nachfolgenden vorausempfangen, und auch wieder den achten Teil vom Rest. Und so soll jeder folgende 100 fl. mehr als der erste und dann von dem übrigen den Achtel erhalten, und der letzte bekommt, was übrig bleibt, wie überall. Damit waren die Kinder zufrieden. Nach dem Tode des Vaters wurde sein letzter Wille vollzogen, und es ist nun auszurechnen, wieviel ein jeder bekommen habe.

Zu dieser Aufgabe bemerkt Hebel im Hinblick auf eine vorhergehende, die er als klein und leicht bezeichnet:
 "Folgende ist auch nicht schwer aber artig. Nur muß man richtig rechnen, und nicht irre werden, was leicht möglich ist."

Von zweien seiner insgesamt vier "Rechenexempel" gibt Hebel auch die Lösungen an, allerdings ohne den Rechenweg. Die Lösung der nicht von mir zitierten Aufgabe mit zwei Schäfern und dem Austausch von Schafen enthält gleich wieder eine nette "moralische" Ermahnung oder Lebensweisheit:

So ein Schaf hin oder her zu geben, wenn man selber nur 5 oder 7 Stücke hat, ist nun freilich keine Kleinigkeit. Sonst aber und wo es angeht, ist es immer besser, gute Freunde halten's miteinander so, daß die Teile gleich werden, als daß einer viel hat und der andere wenig. Denn Mehrhaben macht leicht übermütig und gewalttätig, und Wenighaben macht mißgünstig; und wo einmal Obermut und Mißgunst sich einnisten, da hat es mit der guten Freundschaft bald ein Ende.

Falls sich jemand mit der zitierten Aufgabe beschäftigt (und sie anschließend als Lehrer vielleicht seinen Schülern vorsetzt), wünsche ich dabei viel Vergnügen und grüße darüber hinaus herzlich Euch alle.

Nachtrag: alle Kalendergeschichten (mit "Die 6 Rechnungsexempel") findet man hier.

Lösung der Aufgabe mit dem Vater und den sieben Kindern

Zurück zur Themenübersicht, Teil 2