Meine Seele bekommt schwarze Flecken

Jemand hat versucht, mich zu beleidigen. Seit Stunden muss ich immer wieder daran denken, vergeude Zeit mit ärgerlichen Gefühlen und unangenehmen Erinnerungen. Er merkt nichts davon, mir aber schadet es. Meine Seele bekommt dadurch schwarze Flecken. Im Moment stelle ich sie mir als ein mittelgroßes, leicht verbogenes, ursprünglich gerades, goldschimmerndes Blech vor, das bereits zum großen Teil von ihnen überzogen ist. Dieser Schwärze will ich entgegenwirken, sie zurückdrängen. Doch wie poliert man eine Seele? Wer oder was hilft mir dabei? Vielleicht ist es meine Vergesslichkeit, die mich im Laufe der Zeit weniger an jenen Störenfried denken lässt als jetzt. Aber gehen dann die Flecke von selbst wieder weg, oder hören sie nur auf, sich weiter auszubreiten?

Die Seele als Metallstück - klingt das nicht ziemlich gewagt, um nicht zu sagen: absurd? Das Folgende soll eine Antwort auf diese Frage sein.

Wenn wir etwas nicht direkt anfassen und genau erkennen können, was und wie es ist, machen wir uns davon ein gedankliches Bild. Dies geschieht in der Physik bei so etwas Winzigem wie den Atomen ebenso wie bei fernen, riesigen Galaxien; weitere Beispiele ließen sich leicht nennen. Dabei spielen vertraute Begriffe wie Teilchen und Welle, Schwingung, Fluss und Feld eine große Rolle.1) Wie gut mit ihnen die Wirklichkeit erfasst wird, lässt sich nicht sagen.

Ähnlich ist es bei der Seele. Manche zweifeln sogar daran, dass es sie gibt. Andere halten sie für den wichtigsten Teil des Menschen, den es vor Schaden zu bewahren und zu pflegen gilt. Wie sie aussieht (falls man bei ihr überhaupt von Aussehen sprechen kann), weiß niemand, und so kommt es zu willkürlichen Bildern, mit denen man ihr Wesen zu beschreiben versucht. Häufig wird die Seele als etwas sehr Leichtes, Luftiges, manchmal auch Helles angesehen; es ist aber auch möglich, dass sie ''schwarz'' ist. Anfänglich von großer Reinheit, kann sie diese verlieren, ebenso ihre anmutige, im übrigen nicht näher bestimmte Gestalt. In der Antike brachte man die Seele gelegentlich mit dem Feuer in Verbindung. Oft wird sie für etwas besonders Stabiles, Unvergängliches gehalten: vielen gilt sie als "unsterblich". Ein Dichter schrieb, dass die Seele fliegen kann.

Alle Aussagen über die Seele sind lediglich anschauliche Vergleiche mit Bekanntem, das uns umgibt. Hierzu gehört auch mein verbogenes, ursprünglich glänzendes Stück Blech mit seinen schwarzen Flecken. Es fiel mir spontan nur so ein - ich weiß auch nicht, warum. Trotzdem halte ich es nicht für unsinnig. Täte ich dies, müsste ich dasselbe auch mit bestimmten Ergebnissen in den Naturwissenschaften tun. Zu ihnen sehe ich in dieser Beziehung keinen Unterschied; im Prinzip gehen wir dort ganz genauso vor.

Die Seele ist für mich etwas Reales, kein bloßes Hirngespinst. Während wir mit dem Verstand denken, analysieren, vergleichen, schlussfolgern, wird die Seele aktiv, wenn wir fröhlich oder traurig sind, wenn wir etwas (oder jemanden) bewundern, wenn wir uns fürchten, Liebe oder Abneigung empfinden. Die Existenz der Seele zu leugnen, erscheint mir allzu kurzsichtig. Auch den Regenbogen mit seinen "sieben" Farben gibt es in Wirklichkeit nicht; dennoch reden wir von ihm und freuen uns über ihn. Wer zwingt uns, alles auf das rein Materielle zu reduzieren? Wo bleibt dabei das Poetische, Gefühlsmäßige, das dem Menschen ebenso eigen ist wie seine Ratio und wofür die Seele zuständig ist?

Rein materiell zu denken und zu argumentieren, empfiehlt sich auch aus einem anderen Grunde nicht. Es steht nämlich keineswegs fest, was "Materie" überhaupt bedeutet. Manche setzen sie der Einfachheit halber gleich mit "Energie", oft ohne genau zu wissen, was man darunter versteht.2) Sie handeln ähnlich wie diejenigen, die sehr schlicht behaupten, Zeit sei "Bewegung". Um diese Dinge (und weiteres) wirklich zu klären, bedarf es scharfsinniger, tiefgründiger Überlegungen, die allem Anschein nach bis heute nicht abgeschlossen sind.

Zurück zur Seele. Was viele nicht wissen, vergessen oder verdrängt haben: in einigen Ländern mit insgesamt hunderten Millionen von Einwohnern war es jahrzehntelang von Staats wegen verboten, öffentlich über die Seele zu reden. Wer privat an ihre Existenz glaubte und daran, dass es nötig ist, sie zu hüten und zu pflegen, galt im mildesten Fall als unanständig oder leicht verrückt, in "hartnäckigen" als verbrecherisch und feindlich. Die sich daran beteiligten, wurden oftmals verfolgt, eingesperrt, ermordet. Noch immer gibt es Regime, die damit fortfahren.

Die Philosophie, auf der dies beruht, wurde in unserem eigenen Land entwickelt und hatte weltweit katastrophale politische Folgen. Sie war ein Kind der Aufklärung. Dies erwähne ich deshalb, weil kürzlich in einer Internet-Diskussionsgruppe eine bestimmte Vorstellung vom Sitz der Seele im menschlichen Körper als "anti-aufklärerisch" scharf zurückgewiesen wurde. Was die Aufklärung anstrebte und tatsächlich erreichte, ist ein spannendes Kapitel für sich. Ihrer areligiösen Grundeinstellung, die die Vernunft in den Mittelpunkt stellte, will ich mich nicht anschließen.3)

Im übrigen gibt es außer Unversöhnlichkeit und anhaltendem Ärger über Andere noch mehr Möglichkeiten, dem "Seelenblech" Flecken hinzuzufügen und es noch stärker zu verbiegen. Neid und Missgunst, Undankbarkeit, (übertriebener) Ehrgeiz und Stolz auf eigene Leistung, eigenen Besitz und Status gehören dazu. Das hier verwendete Bild der Seele kann dazu beitragen, diese Fehlhaltungen zu verringern und vielleicht ganz zu vermeiden, denn vermutlich möchte niemand ein solches, unansehnlich gewordenes "Blech" in seinem Inneren mit sich herumtragen. Ungeklärt bleibt bei alledem, was die Flecken machen, wenn man sich über längere Zeit mehr oder weniger erfolgreich darum bemüht, die genannten Schwächen zu überwinden. Ob sie dadurch von alleine weggehen, ob die Seele ihr ursprüngliches gerades, glänzendes Aussehen zurückgewinnt und ganz allgemein die Tendenz besitzt, sich zu regenerieren, ist gänzlich ungewiss. Hier kann man ebenfalls nur spekulieren, wobei der Phantasie kaum Grenzen gesetzt sind...
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1) auch vibrierende (Miniatur)saiten, dünne Röhrchen, "aufgeschnittene Gummis" u. a., vgl. z. B. hier2a)
2) So las ich z. B.: "Energie ist schwingender Raum."
2a) Auch das noch: "Dieses 1984 weiterentwickelte, rein theoretische, bis auf den heutigen Tag nicht bewiesene Modell geht davon aus, dass alle Elementarteilchen aus unvorstellbar winzigen Fäden von wenigen Milliardstel Billionstel Billionstel Metern bestehen. Eindimensionale Fäden (Strings), die in einem zehndimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum in verschiedenen Frequenzen oszillieren. ... Laut String-Theorie weist unser Universum neben den drei bekannten mindestens sechs zusätzliche Raumdimensionen auf, die irgendwie aufgerollt sind. Zusammengezogen zu unbekannten geometrischen Figuren auf Subquark-Ebene, befinden sie sich in jedem Punkt in unserem Universum, entziehen sich aber jedweder Beobachtung. Jede dieser Extradimensionen könnte zehntausende mögliche Formen annehmen, wobei jede Form für sich ein eigenes Universum repräsentierte." (Aus: http://www.heise.de/tp/artikel/25/25496/1.html) - alles klar?
3) "Vernunft" ist nicht eindeutig definiert. Was als vernünftig gilt, wechselt zeitlich und örtlich und wird von Menschen festgelegt.4) Für den Gläubigen übersteigt der Friede Gottes alle menschliche Vernunft. (Phil4,7, s. a. hier.)
4) Vernünftig war es lange Zeit anzunehmen, dass die Sonne die Erde umkreist (wie man es ja beobachtet) und dass der Mensch nie imstande sein werde, mit einem pferdelosen Wagen hundert Meilen in einer Stunde zurückzulegen, oder zu fliegen. Für vernünftig hielt man es, dass Völker das Recht hätten, andere, vermeintlich unter ihnen stehende, zu überfallen, auszubeuten oder zu vernichten [1][2][3], auch, dass das Königstum dem Willen Gottes entspräche [4] und Frauen weder wählen noch studieren dürften. Heutzutage scheint es manchen vernünftig, beim Essen ganz auf Kohlehydrate zu verzichten, und viele glauben, dass die Welt vor rund 14 Milliarden Jahren aus dem Nichts [5] entstand. Mit Vernunft wird darüber gestritten, ob Wirtschaftswachstum gut oder schlecht ist, und ob es immer wärmer wird oder eine neue Eiszeit [6] bevorsteht. - -
[1]Barbaren   [2]Sklaverei   [3]Kolonialismus   [4]Gottesgnadentum   [5]Universum   [6]Mini-Eiszeit

Seltsam: Der Heidelberger Physiker Professor Markolf H. Niemz "glaubt, dass sich nach dem Tod eines Menschen die Seele mit Lichtgeschwindigkeit verabschiedet." (Mehrfach im Internet, darunter hier, Abschnitt "Wirken zwischen Materie und Geist".)

Seelenwanderung    Ergänzung   

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