Ein sehr selbstbewusst auftretender, erfolgreicher Mathematiker und Informatiker schrieb mir im Anschluss an mein "Seelenblech": "Ein materialistisches Weltbild hatte schon über 100 Jahre früher der Philosoph René Descartes. Er reduzierte den lebenden Organismus (auch des Menschen) auf dessen Mechanik und definierte die Materie als Gegenstück zum Geist." Mit "über 100 Jahre früher" meinte er wohl eher das, was auch ich auf meiner Seite im Auge hatte, ohne es direkt mit Namen zu nennen: die materialistische Philosophie von Karl Marx und seinen Nachfolgern.

Ich antwortete ihm, dass ich nicht einmal genau wüsste, was mit "Materie" überhaupt gemeint ist. Natürlich weiß ich, was zu ihr gehört: jeder Stein, die Luft, das Wasser, der Mond und die Sterne, ich selbst und unzählig vieles andere, das uns umgibt, mit und von dem wir leben.

Es gibt aber auch manches, das nicht dazu gehört, darunter der Raum und die Zeit. Sie sind ebenfalls Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung und immateriell. Unsicherheit besteht beim Licht.1 Immateriell, wenngleich an Materie gebunden, sind unsere Gedanken und Gefühle, sind die Mathematik und Musik und vieles andere mehr. Auch die Logik und die gedanklichen Modellbilder der Wirklichkeit in verschiedenen Wissenschaften sind keine Materie. Der Gedanke an ein Atom ist etwas anderes als dieses selbst.

Vielleicht, weil das materialistische Weltbild von Marx und das mechanistische von Descartes im Laufe der Zeit aus der Mode gekommen und in den Hintergrund geraten sind, bezeichnen sich heutige Naturwissenschaftler zum Teil lieber als Rationalisten. Das darin steckende Wort Ratio bedeutet unter anderem Vernunft, und diejenigen, die rational zu denken und zu forschen vermeinen, setzen allein auf sie.

Dem kann ich ebenfalls nicht folgen. Gewiss dient sie uns in vielem, und gänzlich ohne Vernunft zu handeln, wäre "unvernünftig". Aber sie hat auch ihre Grenzen. Mit Hilfe der Vernunft kann man Probleme aufwerfen, die zum Teil seit der Antike diskutiert werden, was zeigt, dass sie der Vernunft große Schwierigkeiten bereiten. Eines davon ist die berüchtigte Frage: Was war zuerst da: das Huhn oder das Ei? 2 Eine ganze Serie solcher logischer Probleme findet man hier.

Einige von ihnen lassen sich durch Erweiterung des Logikbegriffs oder durch die Einführung des Begriffs "Klasse" (neben dem bereits bestehenden Begriff "Menge") lösen. Aber ist es denn vernünftig, im Zusammenhang mit dem hypothetischen "Urknall" (der von vielen als Tatsache angesehen wird) anzunehmen, dass aus Nichts Etwas entstand, nämlich nach und nach das ganze Weltall?

Dass die Vernunft durchaus kritisch betrachtet werden kann, veranlasste schon Immanuel Kant, der noch nichts vom "Urknall" wusste und zu den größten Philosophen gerechnet wird, zu seinem ausgedehnten Werk "Kritik der reinen Vernunft". Dort findet man unter anderem diesen schwer- (und für mich unverständlichen) Abschnitt "Ohne hier mit der natürlichen Vernunft ...".

Bei der Vernunft möchte ich auch noch die gesellschaftlichen Nachteile erwähnen, die ihre Überbewertung mit sich brachte. Stark ausgeprägt waren sie zum einen während der Französischen Revolution (s. "Kult der Vernunft") und zum andern in kommunistisch beherrschten Ländern. Nachdem deren Anzahl abgenommen hat, sind sie in den verbliebenen immer noch spürbar. Sie bestehen unter anderem darin, dass die dort lebenden Menschen gezwungen werden, an das Primat der Vernunft zu glauben. Wer sich andere Gedanken, zum Beispiel religiöse, macht und so unvorsichtig ist, sie offen zu äußern, wird verfolgt und bestraft.

Unter Naturwissenschaftlern, soweit sie rationalistisch eingestellt sind, gibt es nun noch welche, die sich "Naturalisten" nennen. "Natur" ist für sie einfach alles um uns herum, was es gibt und was geschieht. Bei ihnen, aber auch verbreitet unter wissenschaftlichen Laien und sozusagen im Volksmund, hat die Natur anthropomorphe, d. h. menschenähnliche Züge, vgl. hier, Nachtrag.

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1 Dass es materiell sei, wird hier in einer rund zweihundert Jahre alten Schrift auf Seite 153 behauptet. Dagegen geht es in einem Zeitungsartikel unserer Tage (von 2014) darum, Licht, welches nicht als Materie gedacht wird, in diese zu verwandeln. – Auf dem bereits mehrfach erwähnten, von mir oft besuchten "Matheplaneten" fand ich noch dies: "... unser Denken ist nun einmal keine Zauberei, sondern basiert auf chemischen und physikalischen Vorgängen, welche sich partiell vorhersagen lassen, so, dass man fast schon sagen könne, sie seien determiniert. Über Gott*, und eigentlich allen Aberglauben*, brauchen wir nicht mehr diskutieren. Die mit einem Sternchen (*) versehenen Wörter sind auch unter den Synonymen 'bullshit', 'Mist' oder auch 'dummes Gelaber' bekannt." Man beachte den gepflegten Schreibstil.
"Im Grunde gibt es Materie gar nicht." – Professor Hans-Peter Dürr in einem weit greifenden Interview hier. (Anm.: Prof. Dürr, gest. 2014, war, was die Erkennbarkeit der "Wirklichkeit" betrifft, ein extremer Idealist, dem ich wegen seines verschwommenen Vokabulars und der damit verbundenen Ideen nicht folgen kann.)
2 Dieses Problem wird heutzutage nicht mehr als rein logisches betrachtet, das sich der Vernunft stellt, sondern als ein biologisch-evolutionäres. Darüber findet man viele Seiten im Internet, zum Beispiel hier und hier. Manche fangen dabei mit den Sauriern an, die auch Eier legten und lange vor den Hühnern lebten.

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