Eine sprachlich bedingte Verständnisschwierigkeit

Beim langsamen, aufmerksamen Lesen in der Bibel mit dem Ziel, das Gelesene möglichst genau zu verstehen, kann es vorkommen, daß man aus rein sprachlichen Gründen ins Stocken gerät und nicht weiß, was an den betreffenden Stellen wirklich gemeint ist. So ging es mir längere Zeit beim Einleitungsteil des Johannes-Evangeliums.

In der Elberfelder Übersetzung liest man im Kapitel 1:

6Da war ein Mensch, von Gott gesandt, sein Name Johannes. 7Dieser kam zum Zeugnis, dass er zeugte von dem Licht, damit alle durch ihn glaubten. 8Er war nicht das Licht, sondern (er kam,) dass er zeugte von dem Licht. 9Das war das wahrhaftige Licht, das, in die Welt kommend, jeden Menschen erleuchtet. 10Er war in der Welt, und die Welt wurde durch ihn, und die Welt kannte ihn nicht. 11Er kam in das Seine, und die Seinen nahmen ihn nicht an; 12so viele ihn aber aufnahmen, denen gab er das Recht, Kinder Gottes zu werden, denen, die an seinen Namen glauben, ...

Das Wort "Er" am Anfang von V.10 ist mißverständlich. Nachdem ab V.7 ausdrücklich von Johannes die Rede ist, kann man es weiter nur auf ihn beziehen, nicht mehr auf Gott in V.6. Hierdurch erhalten die Verse 10 bis 12 einen falschen Sinn: die Welt wurde nicht durch Johannes (gemacht), und Johannes kam auch nicht in das Seine, sondern das war Jesus, dessen Name erst viel später (in V.17) genannt wird. Ebenso gab Jesus und nicht Johannes den Gläubigen das Recht, Gottes Kinder zu werden. Dies alles bringt der Elberfeld-Text nicht klar zum Ausdruck.

Die Luther-Übersetzung [1] lautet ganz ähnlich wie er:

6Es ward ein Mensch von Gott gesandt, der hieß Johannes.7Dieser kam zum Zeugnis, daß er von dem Licht zeugte, auf daß sie alle durch ihn glaubten. 8Er war nicht das Licht, sondern daß er zeugte von dem Licht. 9Das war das wahrhaftige Licht, welches alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen. 10Es war in der Welt, und die Welt ist durch dasselbe gemacht; und die Welt kannte es nicht. 11Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf. 12Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, die an seinen Namen glauben; ...

mit dem Unterschied, daß V.10 nicht mit dem Wort "Er", sondern mit "Es" beginnt. Danach war es das Licht, das in die Welt kam und sie machte. Allerdings geht es dann bei Luther in V.11 wieder mit "Er" weiter und setzt sich in V.12 fort. Auch hier ist nicht zu erkennen, daß Jesus gemeint ist und nicht Johannes!

Anders verhält es sich bei der Sonderausgabe 1998 von "Hoffnung für alle":

6Gott schickte einen Boten: Johannes den Täufer. 7Er sollte bezeugen, daß Jesus Christus das Licht ist, damit alle an ihn glauben. 8Johannes selbst war nicht das Licht. Er sollte die Menschen nur auf das kommende Licht vorbereiten. 9Christus ist dieses wahre Licht, das für alle Menschen in der Welt leuchtet. . 10Doch obwohl er unter ihnen lebte und die Welt durch ihn geschaffen wurde, erkannten die Menschen nicht, wer er wirklich war. 11Er kam in seine Welt, aber die Menschen nahmen ihn nicht auf. 12Die ihn aber aufnahmen und an ihn glaubten, denen gab er das Recht, Kinder Gottes zu sein. ...

Hier gibt es keine Zweifel, wer in der Einleitung zum Johannes-Evangelium jeweils gemeint ist.
Abweichend von den beiden anderen enthält diese Wiedergabe des neutestamentlichen Textes den Hinweis, daß es sich bei dem von Gott ausgesandten Boten um Johannes den Täufer handelt.

Dieser Hinweis fehlt in der revidierten Fassung von "Hoffnung für alle" aus dem Jahre 2004. Trotz anderer Wortwahl bleibt die Darstellung verständlich:

8Johannes selbst war nicht das Licht. Er sollte die Menschen nur auf das kommende Licht vorbereiten. 9Der das wahre Licht ist, kam in die Welt, um für alle Menschen das Licht zu bringen. ...

-----------------------
[1] Im Internet: http://www.bibel-online.net/

Anmerkung: als ich kürzlich zu Besuch in der Schweiz war und am Genfer See spazieren ging, sprachen mich zwei junge Männer an und schenkten mir ein kleines Heftchen mit dem Johannes-Evangelium in französischer Sprache. Darin heißt es:

6Il y eut un homme envoyé de Dieu: son nom était Jean. 7Il vint pour servir de témoin, pour rendre témoinage à la lumière, afin que tous crussent par lui. 8Il n'était pas la lumière, mais il parut pour rendre témoinage à la lumière. 9Cette lumière était la véritable lumière, qui, en venant dans le monde, éclaire tout homme. 10Elle était dans le monde, et le monde a été fait par elle, et le monde ne l'a point connue. 11Elle est venue chez les siens, et les siens ne l'ont point reçue. 12Mais à tous ceux qui l'ont reçue, à ceux qui croirent en son nom, elle a donné le pouvoir de devenir enfants de Dieu, ....

Hier ist ausschließlich vom Licht, von la lumière, die Rede: elle était dans le monde; le monde a été fait par elle; elle est venue; elle a donné - ab V.9 ist es das einzig Handelnde. Bei einer Übersetzung des französischen Textes ins Deutsche gäbe es keinen irritierenden (und dazu noch uneinheitlichen) Wechsel zwischen "er" und "es"; immer würde "es" stehen.

Ergänzung:
Hinsichtlich der Verwendung von "er" und "es" im Griechischen fand ich im Internet noch dieses:

"In Johannes 16,14 werden männliche Fürwörter benutzt, sogar wenn das Neutrum pneuma erwähnt wird. Es wäre einfach gewesen, auf sächliche Fürwörter überzugehen, aber Johannes tat es nicht. An anderen Stellen werden, im Einklang mit grammatikalischen Bräuchen, sächliche Fürwörter für den Geist verwendet. Die Heilige Schrift ist in Bezug auf das grammatikalische Geschlecht des Geistes nicht haarspalterisch – und wir sollten es auch nicht sein."

www.wcg.org/DE/artikel/default.asp?id=371, Ende von Abschnitt II, B. Der Artikel ist nicht dem ersten Kapitel des Johannes-Evangeliums, sondern der Bedeutung des Heiligen Geistes gewidmet. Was er zum Ausdruck bringt, gilt vermutlich sinngemäß auch für das Maskulinum "lógos" (Wort) und das Neutrum "phōs" (Licht) in Joh. 1, 6-12.

Zurück zu "Schwierige Stellen in der Bibel"