Glaube und Hoffnung in der Physik und Mathematik

Der Mensch ist ein Hoffnungswesen. Nicht ständig, aber oft genug hofft er etwas. Wenn er krank ist, hofft er, gesund zu werden; ist er arbeitslos, hofft er, Arbeit zu finden. Der unschuldig Gefangene hofft auf seine Befreiung; wer liebt, hofft auf die Zuneigung des oder der Geliebten. Man hofft darauf, dass etwas Bestimmtes eintritt oder vorbei geht, dass eine Aufgabe, die man sich gestellt hat (oder die einem gestellt wurde), gelingt, dass ein bestimmtes Ziel erreicht wird – der Möglichkeiten zu hoffen gibt es viele.

Hoffen bedeutet intensives Wünschen. Man stellt sich das Erhoffte bildlich vor, hält es prinzipiell für möglich, sehnt sich danach. Hoffnung ist etwas Seelisches. Erscheint eine Situation so schwierig, so bedrohlich und aussichtslos, dass keine Hoffnung mehr besteht, kann sich dies auch körperlich auswirken, und mancher stirbt daran.

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Hoffnungen richten sich nicht nur auf Lebensumstände, sondern werden ebenso in den Wissenschaften gehegt, insbesondere auch in den sogenannten "exakten", ohne allerdings dort jedesmal als solche bezeichnet zu werden. Einen mir bekannt gewordenen Zusammenhang aus der Mathematik, bei dem der Begriff "Hoffnung" ausdrücklich hervorgehoben wird, werde ich weiter unten behandeln.

Ich beginne mit einem Beispiel aus der Physik, und zwar der Planetenbewegung. Bekanntlich entdeckte der deutsche Astronom Johannes Kepler (1571 bis 1630), gestützt auf sehr genaues Beobachtungsmaterial seines dänischen Kollegen Tycho Brahe (1548-1601), dass sich die Planeten nicht, wie früher angenommen, auf Kreisen, sondern auf Ellipsen um die Sonne bewegen. Diese Erkenntnis war insofern bewundernswert, als die Abweichungen von der Kreisbahn bei den meisten Planeten sehr gering sind. Kepler konnte für sein Ergebnis keinen Grund angeben. Dies gelang erst dem Engländer Isaac Newton (1643 bis 1727), der es mathematisch aus dem von ihm entdeckten Gravitationsgesetz herleitete. Newton erkannte dabei auch, dass die Planeten sich gegenseitig, wenn auch nur schwach, beeinflussen, so dass die "Kepler-Ellipsen" in Wirklichkeit leicht verformt werden und sich ständig weiter verändern. Dies geschehe, so Newton, völlig unregelmäßig und nicht voraussagbar. Das einzige, was sich dabei ergeben könne, ja zwangsläufig eintreten müsse, sei, dass die Bahnen so instabil werden, dass sich die Planeten von der Sonne immer mehr entfernen oder auf sie stürzen. In beiden Fällen würde das Planetensystem früher oder später aufhören zu existieren. Nun aber besteht es, wie angeommen wird, schon sehr lange und zeigt keinerlei Anzeichen von Instabilität. Newton wurde deshalb gefragt, was er darüber denke, und er soll sinngemäß geantwortet haben: immer wenn die Abweichungen vom beobachteten, anscheinend stabilen Normalzustand zu groß zu werden drohen, greift Gott ein und sorgt dafür, dass die befürchtete Katastrophe nicht eintritt. Wenn es zutrifft, dass Newton diese Äußerung getan hat, handelte es sich bei ihr um eine Hoffnung. (Die Frage, ob unser Sonnensystem auf sehr lange Zeit weiter bestehen bleibt oder nicht doch eines Tages zusammenbricht oder auseinanderfliegt, ist bis heute nicht ausreichend geklärt und Gegenstand aktueller Forschung. Was im übrigen viele nicht wissen: Newton, eines der größten Genies auf mathematisch-naturwissenschaftlichem Gebiet, war tief gläubig und widmete viele Jahre seines Lebens dem Studium der Bibel.)

In unserer Zeit glauben viele theoretische Physiker, die sich mit der Vergangenheit und möglichen Zukunft des gesamten Weltalls beschäftigen, dieses habe sich vor rund vierzehn Milliarden Jahren bei der Explosion eines eng lokalisierten "Energiepakets" (das man scherzhaft auch "kosmisches Ei" nannte) gebildet. Dies ist die These vom "Urknall". Die sie vertreten, hoffen, dass sie richtig ist. Einen Beweis, dass es wirklich so war, wie von ihnen behauptet, haben sie nicht in der Hand; es gibt weiter offene Fragen. Mehr dazu

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Soweit ein kleiner Einblick in die Physik. Bei ihm begegnen wir Menschlich-Subjektivem. Wie steht es dann aber mit der Mathematik, die mit ihrer Genauigkeit und Strenge vielfach als etwas Objektives, vom Menschen Unabhängiges angesehen wird? Hoffnungen werden bei ihr gewöhnlich nicht erwartet.

Bevor ich hierauf weiter eingehe, sei angemerkt, was das Thema der Mathematik ist: diese Wissenschaft befasst sich mit den Eigenschaften von Zahlen und Figuren, mit denen von Mengen und Strukturen, wobei die zwei letztgenannten Begriffe vor allem die moderne, zeitgenössische Mathematik kennzeichnen. Es geht in ihr nicht (obwohl sie gelegentlich vorkommen können) um öde, ermüdende Rechnungen, die manchen aus der Schulzeit unangenehm in Erinnerung sind, sondern um tiefe, oft sehr mühevolle, anstrengende Untersuchungen, die einen jahre-, jahrzehntelang faszinieren und beschäftigen können.

Das Vorgehen der Mathematiker ist immer dasselbe: entdecken sie etwas Neues, wird es zunächst als Vermutung formuliert, und diese muß dann bewiesen werden. Das geschieht dadurch, dass man sie mit bereits Bewiesenem begründet. Stellt sich heraus, dass sie diesem widerspricht, ist sie falsch, und es hat keinen Sinn, sich weiter damit zu befassen. (Es gibt auch die Möglichkeit des indirekten Beweises: um eine Vermutung A zu beweisen, nimmt man versuchsweise ihr Gegenteil Ā an. Führt Ā zu einem Widerspruch, ist A bewiesen.)

Alle Aufgaben, Neuentdeckungen, Vermutungen stehen nicht isoliert für sich, sondern gehören zu größeren Teilgebieten der Mathematik, wie zum Beispiel der Geometrie oder Zahlentheorie. Diesen liegen gewisse Anfangsaussagen zugrunde, sogenannte Axiome, die als so klar und einleuchtend angesehen werden, dass sie keines Beweises bedürfen.1 Sie bilden den Ausgangspunkt des jeweiligen Teilgebietes. Die Axiome müssen, wie es von den aus ihnen gewonnenen Ergebnissen gefordert wird, in sich widerspruchsfrei sein. Diese Forderung wirkt so natürlich und fast trivial, dass darüber, ob sie überhaupt erfüllt werden kann, lange Zeit kein Zweifel bestand. Bis in das erste Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts herrschte allgemein die Auffassung, man könne die Axiome stets so konstruieren, dass sie sich nicht gegenseitig widersprechen.

Der österreichische Mathematiker Kurt Gödel (1906 bis 1978) führte hier eine tiefgreifende Sinnesänderung herbei. Mit mathematischer Strenge(!) bewies er,

"dass es mit den Mitteln einer widerspruchsfreien mathematischen Theorie nicht möglich ist, ihre eigene Widerspruchsfreiheit zu beweisen."

So schreibt Reinhard Winkler in einer hier im Internet zu findenden, ausgedehnten Abhandlung über die Grundlagen der Mathematik mit dem Untertitel "Das Paradoxon von Banach-Tarski" (Abschnitt 4.2). Und er fährt fort:

"In diesem Sinne müssen wir uns also mit der Hoffnung begnügen, dass wir nicht zu Widersprüchen gelangen. Gewissheit gibt es nicht, es sei denn, wir lassen wesentlich stärkere Mittel zu. Diese bestünden aber in mathematischen Annahmen, die nicht mehr Rechtfertigung besitzen als die schlichte Zuversicht, dass die üblichen Voraussetzungen ... widerspruchsfrei sind."

(Kursive Hervorhebung von mir.) 2, 3

Gödels Entdeckung hatte gravierende Folgen. Eine davon ist die Erkenntnis, dass es mathematische Vermutungen gibt, die sich prinzipiell weder beweisen noch widerlegen lassen. Man nennt sie "unentscheidbar". Bei einer neu entstandenen, noch unbewiesenen Vermutung kann man nur hoffen, dass sie nicht in diese Kategorie fällt; ob dies der Fall ist, läßt sich nicht voraussagen. Wenn jemand etwas Interessantes, bisher Unbekanntes entdeckt hat und mit Beweisversuchen beginnt, führen sie evtl. auch nach langen Bemühungen nicht zum Ziel. Unklar bleibt, ob dies an mangelnden eigenen Fähigkeiten, am Fehlen eines "zündenden Gedankens", liegt oder an der Natur der betreffenden Vermutung, die sich einfach nicht beweisen lässt.

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Während die Hoffnung in den Naturwissenschaften und der Mathematik (diese ist bekanntlich eine Geisteswissenschaft) nur selten erwähnt wird, sieht das bei der Religion ganz anders aus. Hier wird die Hoffnung sehr häufig genannt; der Glaube, speziell der christliche, lebt geradezu von ihr.4

Trotzdem schließen sich naturwissenschaftlich-mathematisches Denken und religiöses Empfinden gegenseitig nicht aus. Das zeigt nicht nur das oben beschriebene Beispiel Newtons; auch andere führende Naturwissenschaftler und Mathematiker waren und sind gläubig. Die Mehrzahl der heute auf diesen Gebieten Tätigen allerdings glaubt, so scheint es, nicht an Gott. Die Betreffenden sind atheistisch eingestellt und berufen sich auf die menschliche Vernunft, obwohl sich von dieser, wiederum mit mathematisch-logischen Mitteln, zeigen lässt, dass sie in bestimmten Fällen unzuverlässig und nicht zu gebrauchen ist.

Von den atheistischen Naturwissenschaftlern und Mathematikern, die ich kenne, verfallen einige in eine Art von intellektuellem Hochmut, indem sie auf ihre gläubigen Fachkollegen, zum Teil mitleidig, herabsehen. Diese Haltung, so hoffe ich mit dem Vorstehenden ein wenig begründet zu haben, ist unberechtigt.

Hinzu kommt etwas Weiteres.

Christen (und ebenso Anhänger anderer Religionen) glauben neben der sichtbaren Welt an eine unsichtbare. Das tun auch diejenigen Physiker, die, ob gläubig oder nicht, sich mit dem Universum, dem Inneren der Atome, mit der Ursache der Schwerkraft und ähnlichen, schwer zu beantwortenden Fragen beschäftigen. Nur nennen sie ihre unsichtbare Welt anders und sprechen statt dessen von der Wirklichkeit. Diese aber, davon sind viele von ihnen überzeugt, ist für uns Menschen nicht erkennbar. Was und wie die Dinge "wirklich" sind, bleibt uns verborgen, als Folge unseres begrenzten Wahrnehmungsvermögens und der daraus resultierenden, unvollkommenen Begriffs- und Vorstellungswelt.

Um bestimmte experimentelle Ergebnisse zu "verstehen", werden für sie gedankliche Modelle entworfen, von denen man hofft, dass sie sich mehr und mehr der Wirklichkeit annähern. Diesen Modellen kann man entgegenhalten:

Von den modernen haben manche eine nur wenige Jahrzehnte betragende Lebensdauer. Sie werden fortlaufend verfeinert (und dadurch immer komplizierter) oder ganz verworfen und durch neue ersetzt. Viele von ihnen sind hochmathematisiert; die Anschaulichkeit ihrer Kernaussagen ist gering.

Alle physikalischen Modelle basieren auf willkürlichen Annahmen, die den Axiomen der Mathematik entsprechen und teilweise ernstzunehmende Mängel aufweisen.

Am bedenklichsten ist aber, dass der Grad der Annäherung an die Wirklichkeit, den die Modelle bieten, sich nicht abschätzen lässt. Das Vertrackte an der Wirklichkeit ist ja, dass sie uns nach Umfang und Inhalt unbekannt ist. Ob die erhaltenen Ergebnisse nahe an ihr dran sind oder weit daneben liegen, bleibt ungewiss .

Newton schrieb vor rund dreihundert Jahren:5 "Was wir wissen, ist ein Tropfen, was wir nicht wissen, ein Ozean." Verbessert hat sich die Lage seit damals nicht.6

Lustig
"Was gut war höchstens nur für Schwache / das Glauben ist nicht meine Sache. / Wir können seinen Trost gut missen / wir stärken uns an reinem Wissen / und trinken statt des Weins den Saft / der objektiven Wissenschaft. / Vorbei sind endlich die Epochen / da man uns konnte unterjochen; / war dunkel einst und trüb die Welt / durch Denkkraft wird sie heut erhellt." Joachim Illies, Biologe, Entomologe, Sachbuchautor, Synodaler der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) (aus www.moeff.de/zitatesammlung~glauben_heisst_nicht_wissen.htm)

Wirklich?
"Mathematik ist die Wissenschaft, bei der man weder weiß, wovon man spricht, noch ob das, was man sagt, wahr ist.", Bertrand Russell, im Internet unter anderem hier zitiert

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1 Dies ist die Eigenschaft der sogenannten "Selbstevidenz". Bisweilen wird auf sie verzichtet. Die betreffenden Axiome, bei denen dies der Fall ist, besitzen dann andere, für den Aufbau des Axiomensystems nützliche Eigenschaften. Auf seiner Internetseite "Gott - die große Unbekannte" schreibt Prof. Arnold Neumaier im Abschnitt "Axiomatische Grundlagen" mehr über den Axiombegriff und dessen Bedeutung.
2 Mit eigenen Worten noch etwas anders ausgedrückt: man kann die Widerspruchsfreiheit einer mathematischen Theorie nicht mit deren eigenen Ergebnissen und Methoden beweisen; vielmehr muss dazu eine "höhere", umfassendere Theorie zu Hilfe genommen werden, für die dasselbe Problem besteht. So pflanzt es sich fort bis zu einer höchsten, umfassendsten Theorie, die sich die Mathematiker im jeweiligen Moment ausgedacht haben und bei der es dann keine Möglichkeit mehr gibt, ihre Widerspruchsfreiheit zu beweisen.
Kurt Gödel: "Jedes hinreichend mächtige formale System ist entweder widersprüchlich oder unvollständig." – vielfach im Internet zitiert. Mehr dazu s. z. B. hier.
3 http://www.tagesspiegel.de/magazin/wissen/Albert-Einstein-Kurt-Goedel;art304,2454513
(Enthält neben Biographischem auch etwas zum Thema "Unbeweisbarkeit".) Auszug hiervon (für den Fall, dass die Originalseite im Laufe der Zeit aus dem Internet verschwindet) -     s. auch noch hier
4 http://bibel.pinwand.ch/Bibel_Suche.aspx?q=Hoffnung - eine Aufzählung von Versen, in denen das Wort "Hoffnung" vorkommt
5 gefunden in http://www.zitate-online.de/~was-wir-wissen-ist-ein-tropfen.html
6 Über das Paradoxon von Banach und Tarski steht hier ein nur Fachleuten verständlicher Artikel mit einem langem Bibelzitat in der Einleitung, welches indes nichts mit "Hoffnung" zu tun hat.

Nachtrag: Hier wird es für möglich gehalten, dass es in der Mathematik Zirkelschlüsse gibt.
Und hier schrieb jemand auf dem "Matheplaneten" amüsant über eine "Begegnung" mit Newton.

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