Die christliche Lehre ist nicht in allem einfach zu verstehen, was sicherlich auch für andere Religionen gilt. Sie bedarf in Teilen der Erläuterung und Interpretation. Diese wurden in der Frühzeit der Kirche unter anderem von den "Kirchenvätern" gegeben, später von Reformatoren wie Luther. In unserer heutigen Zeit fehlt es nach meinem Gefühl in der Evangelischen Kirche an solchen, das Grundsätzliche betreffenden, auf die Bibel gestützten, zusätzlichen Lehraussagen, die es dem modernen, vielen Einflüssen ausgesetzten Menschen ermöglichen, das Wort Gottes besser zu begreifen. Dagegen gibt es sie in der Katholischen Kirche, zum Beispiel in Form der Papst-Enzykliken, von denen ich einige mit großem Interesse und weitgehender Zustimmung gelesen habe.

Aus verschiedenen Gründen gehöre ich zu den Bewunderern im April 2005 verstorbenen Papstes Johannes Paul II. Im folgenden gebe ich einen Auszug aus einem Buch über sein Menschenbild wieder:

"Die Liebe als »einzig angemessene Dimension« der Person, von der [Papst Johannes Paul II.] spricht, ist nicht nur, passiv sozusagen, die Gewähr gegen die Instrumentalisierung des Menschen, gegen seinen Gebrauch als Mittel zum Zweck. Sie bedeutet auch, aktiv, daß der Mensch lieben muß, um er selbst zu sein. Weniger gefühlvoll formuliert: Er muß sich überschreiten, das Gehäuse seines Ich aufbrechen und verlassen. Auch darin ist »Person« etwas anderes als »Individuum«: Sie ist sozial, auf Gemeinschaft angelegt. Daß sie das verkennen, ist in Wojtylas Augen der gemeinsame Irrtum der feindlichen Brüder Individualismus und Kollektivismus. Beide halten den Menschen im Grunde für gemeinschaftsunfähig. Für den Individualismus ist der Nächste eine Bedrohung, bestenfalls ein notwendiges Übel, vor dem man die eigene Freiheit schützen muß. Und für den Kollektivismus ist der einzelne ein unsicherer Kantonist, der durch Zwangsmaßnahmen diszipliniert gehört. Daß Karol Wojtyla die marxistische Klassenideologie ablehnen mußte, versteht sich aus seiner Apotheose der Person von selbst. Aber man versteht auch, warum er mit dem liberalen Westen nie so recht warm geworden ist. Seine Sozialphilosophie will wirklich so etwas wie einen »Dritten Weg« beschreiben, zwischen Atomisierung und Herdendasein.
[...]
Sein liebstes Bibelzitat, aus dem Johannesevangelium, lautet: »Die Wahrheit wird euch frei machen.« Die Erkenntnis des Guten und die Entscheidung für das Gute machen den Menschen frei, weil er sonst nur ein Fähnchen im Wind ist, ein Spielball seiner Launen und Interessen - und Wachs in der Hand der anderen, der Durchschnittsauffassungen oder der herrschenden Ideologie einer Gesellschaft.
[...]
Denn das, was Johannes Paul II. unter »Person« versteht, der Mensch in seinen Bezügen nach allen Seiten, nach oben und nach innen, als geschichtliches und soziales Wesen, als Mutter, Vater oder Kind, als Liebender und Sterbender, als homo religiosus angesichts der Ewigkeit und als »Geheimnis« mit seiner unergründlichen Tiefe - dieser zugleich konkrete und rätselhafte, komplexe, mehrdimensionale Mensch kommt in der wasserreinen liberalen Weltsicht gar nicht vor. An seiner Stelle steht das Individuum, ein nacktes und isoliertes Konstrukt, ein von Hause aus bindungsloses Sozialatom, das sich nachträglich mit anderen ebensolchen Atomen in ein Verhältnis setzt, durch Vereinbarung und Vertrag. Die Gesellschaft, die auf diesem Wege entsteht, die Familien- und Arbeitsbeziehungen, die Wirtschaftsformen und staatlichen Gesetze lassen sich nicht mehr daran messen, ob sie »dem Menschen gemäß« sind. Schon die Frage steht unter Fundamentalismusverdacht; wer so redet, scheint sich ein privilegiertes Wissen anzumaßen und den anderen seine Wertvorstellungen aufzudrängen. Für den guten Liberalen geht es in den Ordnungen des Zusammenlebens nur darum, daß alles formal korrekt zustande kommt, unter Einverständnis der beteiligten Sozialatome. Was sie dabei miteinander und mit sich selbst anstellen, bleibt, ein Minimum an Rechtsgehorsam vorausgesetzt, ihnen allein überlassen."

(Jan Roß, "Der Papst. Johannes Paul II, Drama und Geheimnis", Alexander Fest Verlag, Berlin 2000; zitiert in: www.stauff.de/matgesch/dateien/katholischemathe.htm, ziemlich am Ende der Seite; Anfang etwas irritierend)

"Wir brauchen neue Bilder von Gott, die in unsere Welt passen" - interessante Feststellungen und Denkansätze eines Pfarrers der reformierten Kirchgemeinde Solothurn (Schweiz)

"Das christliche Menschenbild und die gentechnische Veredelung des Menschen" - aus der Homepage von Günter Einbeck (http://www.aionik.de/) Die Seiten enthalten viele historische, kulturelle und naturwissenschaftliche Details. Wunschziel des Verfassers ist die Erzeugung einer weit über dem heutigen Menschen stehenden neuen Lebensform mit Hilfe von Gentechnik und "Supermaschinen". Das Böse in uns soll sie nicht mehr kennen und im Weltraum "Paradiese" schaffen. - Einbeck äußert sich mehrfach abfällig über Religion, zum Teil in derber Sprache, so z. B. in Aionik I hier: "In unserer Zeit sollte man allerdings die überalterten Ansichten, mit denen Jesus Christus und der Buddha locken, der eine mit der Auferstehung von den Toten, der andere mit der Seelenwanderung, restlos hinausschmeißen."(S. 548) Und auf der nächsten Seite schreibt er: "Alle spiritistisch-okkultistischen Fiktionen wie Seele, Jenseits, Auferstehung von den Toten, Jüngstes Gericht im Jenseits, Leben nach dem Tode ... müssen vollständig abgelehnt und entfernt werden."

Wie anders sieht es dagegen bei Alexander Grothendieck aus! 1928 in Berlin geboren, ist*) er ein berühmter, hochdekorierter, französischer Mathematiker, der seit 1991 zurückgezogen in selbstgewählter Isolation unter anderem über die Zukunft der Menschheit meditiert – ohne Genmanipulation und phantastisch-utopische technische Hilfsmittel.       *) s. Nachtrag!
Grothendieck glaubt an Gott. Zeitweise, so heißt es, spielte er Choräle auf dem Klavier und sang dazu. – Seine Kindheit und das Leben seiner Familie verliefen, politisch bedingt, unglücklich und waren voller Gefahren. Hierüber berichtet ein Fachkollege von ihm, Prof. Winfried Scharlau, in "Wer ist Alexander Grothendieck?". Vom gleichen Autor stammt ein Essay über Grothendiecks Text "Les Mutants" (Die Mutanten), und von der französischen Mathematikerin Leila Schneps, einer der letzten, die noch mit Alexander Grothendieck (brieflichen) Kontakt hatte, eine Kurzbeschreibung von dessen "La Clef des Songes" (Der Schlüssel der Träume).
Dies alles finde ich sehr aufschlußreich und beeindruckend. Am meisten aber bewegt mich der Abschnitt 4 in Scharlaus Arbeit: Hanka Grothendiecks autobiographischer Roman Eine Frau. Er vermittelt einen tiefen Einblick in das Leben und die Bestrebungen mehrerer, mit Alexander Grothendieck verbundenen gewesener Menschen und gleichzeitig in die europäische Geistes-, Kultur- und Politikgeschichte der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, die von heute kaum noch vorstellbarem sozialem Elend, von Verfolgung, Flucht und ideologisch motiviertem Massenmord geprägt war. Und man erfährt von starken, wahrheits- und freiheitsliebenden Charakteren wie Grothendiecks Vater. Dieser wurde dem Sohn zum leuchtenden, unauslöschlichen Vorbild.
In jener furchtbaren Zeit gab es herausragende Beispiele tätiger Nächstenliebe, die allerdings, um niemanden zu gefährden, nur im geheimen wirksam werden konnte. Hierzu rechnet die Hilfe, die Wilhelm und Dagmar Heydorn Alexander Grothendieck als Kind gewährten. Sie wird in dem oben genannten Abschnitt 4 von "Eine Frau" beschrieben.
Über den eigenwilligen früheren Hamburger Pastor und großen Menschenfreund Heydorn gibt es, eingebettet in eine Darstellung der Anfänge der Bahá'í-Bewegung in Hamburg, hier einen ausführlichen Bericht.
Prof. Rainer Hering schrieb im Biographisch-Bibliographischen Kirchenlexikon einen langen Artikel über Heydorn, in dem unter anderem auch dessen "100 Thesen" zum christlichen Glauben wiedergegeben werden. Die betreffende Internetseite ist seit 2011 ohne Registrierung nicht mehr erreichbar.

Nachtrag:
Professor Grothendieck, geb. am 28.3.1928 in Berlin, verstarb am 13.11.2014 in Saint-Giron (Frankreich). Ein Mitglied des "Matheplaneten" schrieb hier einen Nachruf auf ihn mit weiteren Links sowie Bildern.

Mathematik und Mathematiker wurden jahrhundertelang von führenden Kirchenvertretern abgelehnt und angefeindet, vgl. z. B. hier, Beitrag No. 32. (Auch das gehört zu meinem Thema "Christliche Lehre, Menschenbild" auf dieser Seite.)

Sehr viel besser als das, was über die Höherentwicklung des Menschen unter Einsatz intelligenter Maschinen bei dem oben erwähnten Günter Einbeck steht, finde ich diesen Aufsatz von Peter Möller in seinem philosophischen Online-Lexikon "philolex". Er zeichnet sich durch Sachlichkeit und im Ton durch Zurückhaltung und Bescheidenheit aus.

Über zwei menschliche Schwächen       Über Gottesbilder

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