Eine mysteriöse Begegnung

Die Einwohner eines von sanften Hügeln und hohen Bergen umgebenen Tales hatten eine ungewöhnliche Lieblingsbeschäftigung: in ihrer Freizeit stellten sie sich Aufgaben und Rätsel vorwiegend mathematischer Art. Diejenigen, die hierbei am erfolgreichsten waren, wohnten weiter oberhalb, alle anderen dagegen unten in der Niederung. Die hochgelegenen Häuser glänzten am Tage länger als die übrigen in der Sonne und wurden bewundert; abends und nachts funkelten ihre Lichter noch lange ins Tal. Bei vielen weckten sie geheime Wünsche, manchmal auch Neid.

Geld spielte bei dem Ganzen keine Rolle. Niemand, der genügend davon hatte, um sich an einem Hang oder gar auf einer Bergspitze anzusiedeln, hätte dies ohne gleichzeitige, ausreichend hohe mathematische Leistungen gewagt: sein Verhalten wäre als Überheblichkeit belächelt und verurteilt worden; gesellschaftlich wäre er erledigt gewesen. Nur durch die Fähigkeit, schnell, scharf und tief zu denken, konnte man sich bei den in regelmäßigen Abständen durchgeführten Aufgaben-Wettbewerben im wahrsten Sinne des Wortes "hocharbeiten".

Unter den Talbewohnern befand sich ein Mann mittleren Alters, der unter dieser Regelung litt. Er wußte, daß er kein schneller Denker war, und nur selten gelang es ihm, eine schwierige Aufgabe termingerecht zu lösen. Oft schaffte er es nicht einmal nach Ablauf der für die Ergebnisse festgesetzten Einsendefrist. Viele der Aufgaben waren ihm einfach zu schwer, obwohl er zur Lösung der meisten genügend ausgebildet war. So hatte er einen schrecklichen Minderwertigkeitskomplex, hielt sich für unbedeutend und schämte sich. Heimlich gab er sich den Namen "Unfelix", das heißt "der Unglückliche", und kürzte ihn "Uf" ab. Das klang, für sich betrachtet, schon fast wie ein Seufzer.

Uf ging viel spazieren, auf Wegen oberhalb des Tals und um dieses herum, immer mit Blick auf die hochgelegenen Häuser, die für ihn als Wohnsitz unerreichbar waren. Eines Tages begegnete er Sophia. Er kannte sie aus seinen sehnsuchtsvollen Träumen und wußte sofort, daß sie es war. Er wußte auch die deutsche Bedeutung ihres griechischen Namens, und als sie da so auf ihn zuschritt, wich er ihr scheu aus und wollte sich davondrücken, was ihm aber nicht gelang.

Sophia war kein junges Mädchen, sondern eine alte Frau: hochgewachsen, mit weißem Haar und feinen Linien in ihrem etwas streng wirkenden Gesicht. Nur ihre dunklen Augen ruhten, so schien es ihm, freundlich auf dem armen Uf. Vielleicht täuschte er sich auch, denn sie sagte nichts und wies mit einer beinahe herrischen Gebärde auf einen am Wegrand liegenden Baumstamm, Uf bedeutend, er solle sich setzen.

"Ich kenne dich", begann sie und nannte dabei anstelle der häßlichen Abkürzung seinen richtigen Namen, "und ich beobachte dich schon seit langem. Du machst einen Fehler, wenn du immer nur an diese Mathegenies denkst und so sein möchtest wie sie. Das wird dir nie gelingen!" Und nach einer winzigen Pause fuhr sie fort: "Du hast Qualitäten und Fähigkeiten auf anderen Gebieten. Freue dich darüber und nutze sie! Ich weiß, du schätzst sie gering, aber das ist ungerecht und undankbar. Die Qualen, die du erleidest, sind die Strafe dafür!"

Mit diesen Worten verschwand sie ebenso rasch, wie sie vor ihm aufgetaucht war.

Die Begegnung mit "Sophia" schockierte Uf. Sie war nichts Reales. Eine Halluzination? Eine Vision? Wer weiß. Er kannte sich damit nicht aus. Nur soviel war klar: um nicht noch völlig verrückt zu werden, mußte er sich ändern. So, wie es die mysteriöse Alte gesagt hatte. Daran führte kein Weg mehr vorbei.

Tief in Gedanken schlich er nach Hause. Die Rückverwandlung in Felix, den Glücklichen, der er früher war, kam nicht spontan. Unterwegs fiel ihm noch der Fuchs aus der bekannten Fabel ein, dem die süßen Trauben zu hoch hingen und der deshalb erklärte, sie seien sauer. War das ein kluges Tier, klüger als er selbst? Diente die Fabel dazu, den Fuchs zu verspotten, oder gab sie ihm recht?

Er wußte es nicht, denn er war, wie schon erwähnt, ein langsamer Denker....

Hans-Jürgen
(13.3.04)

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