Über die Leere Menge und die Null

Das Folgende schließt an FlorianM's kürzlich erschienenen Artikel über
Georg Cantor  an und erweitert ihn ein Stück.1) 

Die dort zitierte Definition Cantors lautet:

"Eine Menge ist eine Zusammenfassung bestimmter, wohlunterschiedlicher Dinge unserer Anschauung oder unseres Denkens, welche Elemente der Menge genannt werden, zu einem Ganzen."

Problematisch wird das bei der leeren Menge. Da sie keine Elemente besitzt, passt sie nur schlecht dazu, denn eine "Zusammenfassung" von nichts, weder von materiellen oder nur vorgestellten Dingen, ist keine Zusammenfassung.

Dieser Begriff lässt sich vermeiden, wenn man von einer Bemerkung auf der Wikipedia-Seite [1] Gebrauch macht:

"Eine Veranschaulichung des Mengenbegriffs, die Richard Dedekind zugeschrieben wird, ist das Bild eines Sackes, der gewisse Dinge enthält. Nützlich ist diese Vorstellung zum Beispiel für die leere Menge: ein leerer Sack. Die leere Menge ist also nicht 'nichts', sondern ein Behältnis, das nichts enthält."

Hiermit kommt man, von einer beliebigen anderen Menge ausgehend, zur leeren Menge, indem aus dem "Sack" nach und nach alle Dinge herausgenommen werden.

Eine Entsprechung findet dieses Vorgehen bei den Zahlen. Als in der menschlichen Entwicklung eine bestimmte Kulturstufe erreicht war, fingen Kaufleute und staatliche Behörden an, Geld- und Warenvorräte listenmäßig zu erfassen. Wenn durch fortlaufende Entnahmen ein Konto oder Magazin geleert war, ließ man in den Listen an den betreffenden Stellen zunächst einfach eine Lücke frei. Dann aber wurde es üblich, diese durch ein besonderes Merkzeichen auszufüllen, zum Beispiel einen Punkt oder Kreis. Damit war die Null geboren. (Die mittelamerikanischen Maya verwendeten für sie, so heißt es in [2], als Symbol ein leeres Schneckenhaus. Dort wird auch beschrieben, wie sie rechneten, was für sich interessant ist.)

In arabischer Schrift wird die Null noch heute durch einen Punkt wiedergegeben, während ein eiförmiges Zeichen die Fünf bedeutet:

Bild
(entnommen aus einem Briefmarkenangebot bei ebay)

Die Römer mit ihrem unhandlichen Zahlensystem kannten die Null nicht, jedoch stammt unser Wort für sie vom lateinischen "nullus", was "keiner" bedeutet. Das arabische Wort "sifr" steht ursprünglich für "leer"; es lebt als "Ziffer" bei uns und abgewandelt in mehreren europäischen Sprachen fort. Auch das englische "zero" und das französische "zéro" gehen darauf zurück.

Wann die Null "erfunden" wurde, von wem und in welchem Land, steht nicht fest; angenommen wird Indien im 5. Jahrhundert. Dagegen lässt sich die Entstehung des Begriffs "leere Menge" zeitlich und personell gut zurückverfolgen.

Vor rund hundert Jahren stellte sich heraus, dass die Cantorsche Mengendefinition zu weit gefasst ist. Zu den "Dingen unseres Denkens" gehören zweifellos auch Mengen, deren Elemente selber Mengen sind. Insbesondere kann man sich die Menge aller nur möglichen Mengen vorstellen sowie Mengen, die sich selbst als Element enthalten. Solche Mengen führen, wie als erstem dem britischen Logiker Bertrand Russell (1872 bis 1970) auffiel, zu Paradoxien und unauslöschlichen Widersprüchen, die es zu vermeiden gilt.  

Deshalb entstanden in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts neue Mengenlehren, die den Begriff "Menge" gegenüber seiner Bedeutung bei Cantor einschränkten. Sie gehen axiomatisch vor und schließen dabei Mengen, die zu Paradoxien führen können, grundsätzlich aus.

"Das bekannteste System dieser Art ist die Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre, deren Grundlagen 1908 von E. Zermelo gelegt wurden. Die endgültige Fassung erfolgte 1922 aufgrund einer Arbeit von A. Fraenkel", liest man in [3]; dort werden noch weitere Systeme erwähnt und beschrieben.

Über die leere Menge heißt es im Zweitem Axiom des Zermelo-Fraenkel-Systems kurz und knapp: "Es gibt eine Menge ohne Elemente."

Zwischen der Null und der leeren Menge besteht in Form der beiden folgenden Gleichungspaare eine Parallele:

a + 0 = a       a · 0 = 0

M U Ø = M     M ∩ Ø = Ø.

Die erste Mengengleichung bringt, anschaulich formuliert, zum Ausdruck: wenn man einer Menge M die leere Menge Ø hinzufügt, so bleibt M unverändert, weil Ø keine Elemente besitzt. Umgekehrt kann man deshalb auch sagen (und tut es): Die leere Menge ist Teilmenge jeder Menge.  

Die zweite Mengengleichung besagt, dass M und Ø disjunkt sind, d. h. keine gemeinsamen Elemente besitzen.

Diese beiden Eigenschaften zugleich hat nur die leere Menge. Bei beliebigen anderen Mengen schließen sie sich gegenseitig aus. Die leere Menge stellt also, abgesehen davon, dass sie keine Elemente hat, in dieser Beziehung etwas Besonderes dar.

Besonderheiten besitzt auch die Null. Davon ist am bekanntesten, dass sie weder positiv noch negativ ist und dass man durch sie nicht dividieren kann. Seltener begegnet man der eigentümlichen, an Absurdes grenzenden Festlegung 0! = 1. Sie ist zweckmäßig zum Beispiel bei der Taylorreihe und scheint sonst in der Mathematik nirgends zu schaden. (Damit, dass diese Festlegung nahezu absurd ist, meine ich folgendes: n! bedeutet bekanntlich das Produkt 1·2·3· … ·n, und da ein Produkt aus mindestens zwei Faktoren besteht, fallen Bezeichnungen wie 1! und 0! aus dieser Regelung heraus. Setzt man sich über sie hinweg, könnte man annehmen, dass wenn 1! = 1 gesetzt wird, 0! entsprechend gleich 0 ist  - aber nein: 0! soll ebenfalls gleich 1 sein!) Nebenbei: mutig geworden, darf man nun nicht etwa auch 00 = 1 setzen, nur weil für jede von 0 verschiedene Zahl a gilt: a0 = 1 - das ist im allgemeinen falsch. Der Ausdruck 00 kommt öfter bei der Kurvendiskussion vor, und es bedarf sorgfältiger Untersuchungen, welchen numerischen Wert er im Einzelfall hat, sofern er sich überhaupt angeben lässt.

Noch einmal zurück zur leeren Menge. Auf der Wikipedia-Seite [4], die die Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre zum Inhalt hat, lese ich mit Erstaunen, dass die mit ZF abgekürzte Version ohne das Auswahlaxiom unendlich viele Axiome verwendet.

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1) Mein Beitrag ist wiederum recht allgemein gehalten und wendet sich nicht an einzelne Spezialisten, die auf dem MP hauptsächlich die Behandlung komplizierter mathematischer Themen aus dem Universitätsbereich erwarten, welche nur wenigen Leserinnen und Lesern verständlich sind. Ich erwähne das deshalb, weil mir bei entsprechender früherer Gelegenheit in unsachlicher und unhöflicher Form der Vorwurf von zuviel Schulmathematik gemacht wurde.
2) Nachtrag. Das Thema "Was bedeutet 00?" wird hier erneut aufgegriffen

[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Menge_%28Mathematik%29 
[2] http://www.meinblog.ch/dateien/hochkulturen.pdf 
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Mengenlehre 
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre 

Hans-Jürgen, 2.11.06



Anm.: Die diesem Artikel folgende, zum Teil emotional geführte Diskussion war mit insgesamt 47 Beiträgen besonders lang. Sie wurde, um ihr eine gewisse, ins Persönliche gehende Schärfe zu nehmen, an anderer Stelle (s. obigen Nachtrag 2) fortgesetzt.

Dort ging die Debatte vor allem darum, ob 00 gleich 1 ist oder als 1 angenommen werden darf bzw. soll, und ob die jeweiligen Festlegungen Definitionen oder Konventionen sind. Zu einer Einigung kam es nicht. Trotz aller Strenge der Argumentation und versuchten Beweisführung gab es auch Humorvolles. Offenbar ermüdet und vielleicht auch etwas entnervt von dem vielen Hin und Her, schrieb ein Diskussionsteilnehmer:

"Für heute Nacht setze ich einfach mal 00 gleich unendlich"

und ein anderer:

"Ich setze heute mal 5^3 = Zahnbürste mit Eis. Das ist unheimlich sinnvoll."

Ihm antwortete ich mit:

Endlich 'mal ein guter Witz!
Kann aus diesem Geistesblitz
man nicht einfach weiterschließen,
ohne jemand zu verdrießen:
00=1 gilt schlicht
manchmal und dann wieder nicht?

Denn das sagte ich ja immer,
war darum wohl ein ganz Schlimmer.
Doch das scheint mir jetzt vorbei,
und wenn nicht, wär's einerlei.

0 hoch 0 und solche Sachen
bringen eher mich zum Lachen,
und ich hoff' nicht unbegründet,
dass der Streit ein Ende findet.

Dem folgten Verse eines weiteren Diskussionsteilnehmers, die den Abschluss auch dieses wieder sehr ausgedehnten threads bildeten.

Noch ein Nachtrag, Jahre später, nicht auf dem Matheplaneten: https://www.matheretter.de/wiki/null-hoch-null

Und in einem weiteren mathematischen Diskussionsforum las ich: "Warum ist Null hoch Null gleich Eins?" "Null hoch Null ist nicht eins, sondern undefiniert. Man kann aber den Wert 1 definieren, wenn es für das mathematische Vorhaben sinnvoll ist. Genauso gut könnte man auch 0 hoch 0 gleich 0 setzen, wenn es in den Kram passt."

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