Heinrich Hertz: Versuch einer Mechanik ohne den Kraftbegriff
Anregungen in dem thread Zentripetalkraft
folgend, möchte ich mich mit einem Thema befassen, das bis
heute eine gewisse Aktualität besitzt. Was es damit auf sich hat, soll
gegen Ende dieses Beitrags deutlich gemacht werden.
Zunächst
etwas über Heinrich Rudolph Hertz – so der volle Name – und seine
Zeit, ohne daß dabei auch nur annähernd Vollständigkeit angestrebt werden
kann.
Hertz war schon als Junge auffallend lernbegierig und pflichtbewußt und
zudem besonders handgeschickt. Nach der Schule begann er auf eigenen
Wunsch eine Tischlerlehre, die er zur größten Zufriedenheit seines Meisters
beendete. Als dieser später erfuhr, daß sein ehemaliger Lehrling als
Physiker weltberühmt wurde, soll er gesagt haben, er wäre auch ein sehr
guter Drechsler geworden.
Nach der Lehre wollte Hertz Bauingenieur werden. Während der darauf
gerichteten Studien kam bei ihm zusätzlich eine hohe Begabung zur
Mathematik zum Vorschein; er sattelte um und wandte sich der Physik zu.
Diese Wissenschaft befand sich damals in einer heftigen geistigen
Bewegung und Aufbruchstimmung. James Clark Maxwell (1831-1879) hatte
mit der Aufstellung seiner anschließend berühmt gewordenen Gleichungen
zur Elektrodynamik, wie man dieses Teilgebiet später nannte, postuliert,
daß es elektromagnetische Wellen geben müsse, die sich mit
Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. Wenn das stimmte, wäre das nicht nur
eine Aussage über das Verhalten elektrischer und magnetischer Felder
gewesen, sondern es hätte gleichzeitig auch eine neue Erkenntnis über die
Natur des Lichts bedeutet. Hertz wies experimentell nach, daß es diese
Wellen tatsächlich gibt. Er führte mit ihnen auch Reflexions-, Brechungs-
und Polarisationsversuche durch. Mit seiner Entdeckung erregte er großes
Aufsehen, vor allem in England, wo man an einer Bestätigung der
Maxwellschen Theorie besonders interessiert war. Die Lichtwellen wurden
von nun an ebenfalls als elektromagnetische Wellen betrachtet.
(Hertz entdeckte auch den äußeren Photoeffekt, der von seinem
Assistenten Hallwachs weiter untersucht wurde und öfter nach
diesem benannt wird. Dieser Effekt führte Einstein, der ihn theoretisch
zu verstehen und zu deuten suchte, zu der Einsicht, daß das Licht auch
als Teilchenstrahlung angesehen werden kann, wie es vor der Entdeckung
seines Wellencharakters seit der Antike bis hin zu Newton
allgemein geglaubt wurde.)
Heinrich Hertz' Interesse galt in starkem Maße aber auch der Mechanik.
Hierbei war er nicht der einzige, der sich Gedanken über deren
Begriffsbestimmungen und Grundlagen machte. Andere, damals berühmte
Physiker wie Gustav Robert Kirchhoff (1824-87), dem wir die noch
heute oft angewendeten Kirchoffschen Regeln in der Elektrizitätslehre
verdanken (der aber auch in der Theorie der Wärmestrahlung, in der
Spektroskopie und auf anderen Gebieten führend war), Ernst Mach
(1833-1916), der österreichische Philosoph und Physiker, nach dem der
"Machsche Kegel" und eine relative Einheit für die
Schallgeschwindigkeit bei der Luftfahrt benannt sind, taten es Heinrich
Hertz gleich.
Besonders hervorzuheben ist dabei Herrmann Helmholtz (1821-94),
bei dem Hertz nach seiner Promotion als Assistent tätig war. Helmholtz,
der wegen seiner großen Verdienste in der Medizin und Physik geadelt
wurde und fortan das Wörtchen "von" seinem Namen hinzufügen
durfte, war ein ungewöhnlich vielseitiger und produktiver Forscher. Er
gab dem von dem Heilbronner Arzt Julius Robert von Mayer (1814-78)
zuerst formulierten Energieerhaltungssatz seine endgültige Fassung und
arbeitete außer über Elektrizität und Magnetismus auf den Gebieten
Hydrodynamik ("Helmholtzsche Wirbelsätze"), Thermodynamik,
Optik und Akustik. Nach ihm sind die heute noch bekannte und vielbenutzte
Helmholtz-Spule benannt und die Helmholtz-Resonatoren. Er war Augenarzt
und erfand den Augenspiegel, der sich für ungezählte, ohne diesen nur
schwer zu heilende Patienten äußerst segensreich auswirkte.
Wie Helmholtz wurde auch Heinrich Hertz vielfach geehrt. Nach ihm
benannte man die SI-Einheit der Frequenz: 1 Hz = 1 s-1.
Allerdings setzte sich dies nicht weltweit durch: im englischen Sprachraum
wird häufig immer noch für Hz cps geschrieben, was "cycles
per second" bedeutet.
In Hertz' Vaterstadt Hamburg trägt der rund 280 m hohe Fernsehturm seinen
Namen.
Heinrich Hertz lebte von 1857 bis 1894. In seinen letzten Jahren litt er
schwer an der seltenen Wegenerschen Krankheit, einer chronischen
Entzündung der Blutgefäße, die mit Ohr- und Nasenschmerzen verbunden ist.
Er mußte sich mehrmals aufwendigen Operationen am Kopf unterziehen und
verstarb schließlich an den Folgen einer Blutvergiftung, erst 36 Jahre
alt.
Sein nahendes Ende voraussehend, schrieb er an seine Eltern:
"Wenn mir wirklich etwas geschieht, so sollt Ihr nicht trauern,
sondern sollt ein wenig stolz sein und denken, dass ich dann zu den
besonders Ausgewählten gehöre, die nur kurz leben und doch genug
leben."
Unter großen Anstrengungen und Leiden brachte er sein Buch Die
Prinzipien der Mechanik in neuem Zusammenhange dargestellt zum
Abschluß, das erst nach seinem Tode veröffentlicht werden konnte. Im
Vorwort zu ihm schrieb Helmholtz:
"Am 1. Januar 1894 starb Heinrich Hertz. Für alle, die den
Fortschritt der Menschheit in der möglichst breiten Entwicklung ihrer
geistigen Fähigkeiten und in der Herrschaft des Geistes über die
natürliche Leidenschaft wie über die widerstrebenden Naturkräfte zu sehen
gewohnt sind, war die Nachricht vom Tode dieses bevorzugten Lieblings des
Genius eine tief erschütternde."
In seiner auch heute noch sehr lesenswerten Schrift [1] schreibt Ernst
Mach einleitend in einem ganzen, dem Hertzschen Werk gewidmeten Kapitel:
"... und man erkennt, daß die 1894 erschienene Mechanik von Hertz
einen ganz wesentlichen Fortschritt in dem bezeichneten Sinne bedeutet.
Es ist nicht möglich, von der Reichhaltigkeit des genannten Buches in den
wenigen Zeilen, auf die wir uns hier beschränken müssen, eine zutreffende
Vorstellung zu geben. ... Das Hertzsche Buch muß eben von jedem, der sich
für die Mechanik interessiert, gelesen werden."
Mach fährt fort:
"Der Vorwurf des Mangels an Klarheit, den Hertz gegen die Galilei-Newtonsche
Mechanik, namentlich gegen den Kraftbegriff vorbringt (S. 7, 14, 15),
scheint uns nur gerechtfertigt gegenüber logisch mangelhaften
Darstellungen dieses Systems, wie sie Hertz aus seiner Jugend- und
Studienzeit wohl zufällig in Erinnerung haben mochte, und Hertz selbst
nimmt ja diesen Vorwurf teilweise (S. 9, 47) wieder zurück oder mildert
denselben wenigstens. Man kann jedoch logische Mängel einer individuellen
Darstellung nicht dem System als solchem zuschreiben. Gewiß ist es heute
nicht erlaubt (S. 7), von einer 'einseitig' wirkenden Kraft zu reden oder
bei der Zentrifugalkraft 'die Wirkung der Trägheit doppelt in Rechnung zu
stellen, nämlich einmal als Masse, zweitens als Kraft'. Es ist dies aber
auch gar nicht nötig, da schon Huygens und Newton hierin ganz klar waren.
Die Kräfte als oft 'leergehende Räder', als sinnlich oft nicht
nachweisbar zu bezeichnen, wird kaum zulässig sein. Jedenfalls sind die
'Kräfte' in diesem Punkt den 'verborgenen Massen' 1)
Wendung empfiehlt sich aber unsere gewöhnliche Mechanik, wie dies Hertz
selbst (S. 47) mit der ihm eigenen Aufrichtigkeit hervorhebt."
1) Hier fehlt etwas in dem
Original-Internet-Zitat.
Es folgen weitere, ausgedehnte Passagen zu diesem Thema.
An dem zuletzt zitierten Absatz kann man andeutungsweise erkennen, woran
sich Hertz' Kritik an der zu seiner Zeit an den Universitäten gelehrten
Mechanik entzündete. Und es läßt sich vielleicht auch erahnen, warum
seiner Verbannung des Kraftbegriffs (auch im Zusammenhang mit dem
leidigen Problem "echter" Kräfte im Unterschied zu
"Scheinkräften") keine Langzeitwirkung beschieden war.
Wer sich näher mit der von Hertz vorgeschlagenen Mechanik ohne den
Kraftbegriff beschäftigen möchte, dem sei ein bei Amazon als Bd.
263 der Reihe "Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften"
erhältlicher Nachdruck seines Buches empfohlen. [2]
Selber las ich darin als Student vor über fünfzig Jahren. An Einzelheiten
kann ich mich nicht mehr erinnern. Neu, wenn auch nur durch eine kurze
Bemerkung und indirekt, begegnete ich ihm durch einen Bericht über eine
MNU-Diskussionsveranstaltung [3], in der es um die Behandlung des
Kraftbegriffs in der gymnasialen Oberstufe Baden-Württembergs ging. Dort
ist der "Karlsruher Physikkurs" (KPK) in Gebrauch, dessen wesentliches
Merkmal darin besteht, daß an die Stelle des Begriffs "Kraft"
der sonst weitgehend unbekannte und ungewohnte Begriff
"Impulsstrom" tritt. Einer der Diskutanten meinte dem Bericht
zufolge lapidar: "Auch Hertz hat im letzten Jahrhundert versucht,
den Begriff der Kraft zu eliminieren. Es ist allgemein bekannt, dass dies
zu nichts führte." Widersprochen wurde dem anscheinend nicht.
Im Gegensatz zur gewöhnlichen Herangehensweise an die Mechanik als Punktmechanik
(Mechanik von Massenpunkten) geht der KPK wohl mehr von
Kontinumsvorstellungen aus, bei denen etwas Ausgedehntes, das nicht
unbedingt materiell sein muß, strömt. Hierbei finden sich Anklänge
an die Thermodynamik, und so ist es nicht verwunderlich, daß in dem
genannten Unterrichtsansatz die Entropie eine wichtige Rolle
spielt. In dem Diskussionsbericht wird dabei der Satz zitiert: "Wenn
ein Körper heiss ist, zum Beispiel, dann hat er nicht Energie sondern
Entropie!" Derartiges las ich noch nie.
Nach diversen Fremdzitaten und ein wenig abseits vom eigentlichen Thema
"Mechanik ohne den Kraftbegriff" sei hier noch etwas aus dem
Werk von Heinrich Hertz selbst wiedergegeben. Es ist allgemeinerer Natur
und berührt Methodisches, das vor allem seit dem zwanzigsten Jahrhundert
durch einen besonderen Begriff gekennzeichnet wird: das Denken in Modellen.
Hertz schreibt dazu:
"Wir machen uns innere Scheinbilder oder Symbole der äußeren
Gegenstände, und zwar machen wir sie von solcher Art, daß die
denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von den naturnotwenigen
Folgen der abgebildeten Gegenstände."
Da außerdem im 19. Jahrhundert trotz aller Erfolge in der Elektrodynamik,
und weil es die Quantentheorie noch nicht gab, mechanistisches Denken
vorherrschte, liest man an anderer Stelle derselben Einleitung:
"Alle Physiker sind einstimmig darin, daß es die Aufgabe der Physik
sei, die Erscheinungen der Natur auf die einfachen Gesetze der Mechanik
zurückzuführen. Welches aber diese einfachen Gesetze sind, darüber
herrscht nicht mehr die gleiche Einstimmigkeit."
Hiermit möchte ich meine zwar ziemlich lang gewordene, gleichwohl
unzureichende Darstellung beenden.
Hans-Jürgen
[1] Die Mechanik in ihrer Entwicklung, S.
49
[2] http://www.amazon.de/Prinzipien-Mechanik-neuen-Zusammenhange-dargestellt/dp/3817132638"
[3] MNU – Verein zur Förderung des mathematisch-naturwissenschaftlichen
Unterrichts. Gibt auch eine für Mathematik- und Physiklehrer interessante
Zeitschrift heraus. Den genannten Bericht findet man hier.
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