Des Kaisers Bart

Es gab eine Zeit, in der man darüber stritt, ob antike und mittelalterliche Kaiser einen Bart trugen oder nicht. Das war, nach einem italienischen Sprichwort, genauso sinnvoll wie über den Schatten eines Esels zu diskutieren.1

Ähnlich scheint es mir mit der Frage zu sein, ob die Null eine natürliche Zahl ist. Auch auf dem Matheplaneten findet man gelegentlich etwas darüber.

Vor ein paar Tagen fand in einer kleinen amerikanischen Universitätsstadt, deren Name mir entfallen ist, ein Kongreß zu diesem Thema statt. Auf ihm standen sich zwei Parteien gegenüber: Die "Nuller", auch "Zeroisten" genannt, und die "Einser".

Die Zeroisten behaupteten, daß die Null schon "seit Jahrhunderten" zu den natürlichen Zahlen gerechnet wird. Die Einser sollten das doch endlich einsehen. Die aber wollten nicht. Sie wiesen darauf hin, daß die Null in Europa bis ins 13. Jahrhundert unbekannt war und der Begriff "natürliche Zahl" noch sehr viel später entstand. Sie hielten es für selbstverständlich, daß er vom Zählen herkommt: 1,2,3, …, und niemand mit Null, d. h. mit gar nichts, beginnt.2

Dem widersprachen die Zeroisten, weil die "natürlich" genannten Zahlen seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr durch das Zählen definiert werden, sondern axiomatisch, etwa mit Hilfe der Peano'schen Axiome.

Die Einser wandten ein, daß Richard Dedekind, der noch vor Peano ein Axiomensystem für die natürlichen Zahlen aufstellte und N als Symbol für deren Menge einführte, die Null nicht dazu zählte. Auch Peano soll anfangs die Eins als kleinste natürliche Zahl angesehen haben.

In Deutschland gibt es eine DIN-Norm, die bestimmt: " ist das Zeichen für die Menge der natürlichen Zahlen, und zu ihr gehört die Null." Daran erinnerten die Zeroisten. Die Einser hatten für diese Vorschrift kein Verständnis und lehnten sie ab. Jedenfalls die deutschen, denn ursprünglich war DIN eine Abkürzung für "Deutsche Industrie-Norm", und die Kritiker meinten, daß Zahlen, also etwas "rein Geistiges", mit technischen Produkten nichts zu tun haben. Dieser Gedanke, der schon fast ins Philosophische geht, wurde nur kurz behandelt, denn die aus anderen Ländern angereisten Fachkollegen und die gastgebenden Amerikaner hatten das Problem bei sich zu Hause nicht.

Andere Kongreßteilnehmer fragten, warum die natürlichen Zahlen "natürlich" genannt werden; man könnte sie ebenso gut "elementare" Zahlen nennen oder "fundamentale". Und sie rätselten darüber, was die Wörter "natürlich", "Natur" überhaupt bedeuten. Auch hier spielt die Philosophie mit hinein. Im übrigen ist es ja so: auch in der Mathematik sind bisweilen Namen "Schall und Rauch". Oder sind etwa die reellen Zahlen reeller als die natürlichen und die imaginären "eingebildet", nur weil sie jeweils so heißen? Diejenigen, die sich damit weiter beschäftigten, kamen mehr und mehr vom eigentlichen Thema ab.

Zu ihm führten die Zeroisten zurück. Sie machten darauf aufmerksam, daß es bei bestimmten Formeln und Lehrsätzen von Vorteil sein kann, die Null als natürliche Zahl anzusehen.3 Außerdem sagten sie, daß es, wenn die Null keine natürliche Zahl wäre, in der Menge der natürlichen Zahlen kein neutrales Element bezüglich der Addition gäbe. Den Einsern war vor allem letzteres gleichgültig. Für den Teil der Mathematik, mit dem sie sich beschäftigten, ist nur die multiplikative Struktur der natürlichen Zahlen von Interesse.

Eine willkommene Abwechslung bei alledem bildeten Berichte über einen sprechenden Papagei, der nicht nur einige hundert Wörter beherrschte, sondern auch "die Null erfand".4

Im Anschluß daran erwähnten die Zeroisten auch noch dies: Wenn die Werte einer Funktion angenähert durch eine Potenzreihe berechnet werden sollen, schreibt man meistens zunächst unbestimmt f(x)=a0+a1x+a2x2+..., d. h., man beginnt bei der Numerierung der Indizes mit 0. Das geschieht auch bei den modernen Computersprachen, während bei den älteren die Zählung meist mit der Eins begann.

Für Informatiker brachte das Treffen wenig Neues. Auf ihre besondere Weise stellten sie fest, daß es 10 Arten von Mathematikern gibt: diejenigen, die über die Bedeutung der natürlichen Zahlen und der Null Bescheid wissen, und die, bei denen das nicht der Fall ist.

Richtigen Streit wie einst um des Kaisers Bart gab es nicht auf dem Kongreß, aber auch keine Einigung. Die meisten Teilnehmer blieben bei ihren Denk- und Sprechgewohnheiten.5

Nur eines war allen klar: die Null, ob natürlich oder nicht, ist gerade.

Und ich dachte immer, sie sei rund: 6

Hans-Jürgen
1. April 2013 (zugleich, was sehr selten ist, Ostermontag)

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1 "disputar dell'ombra dell'asino"
2 Was passieren kann, wenn man doch mit der Null zu zählen anfängt, zeigt eine kleine Anekdote über den berühmten polnischen Mathematiker Sierpiński, dem wir das nach ihm benannte Dreieck verdanken. Er war mit seiner Frau auf Reisen und stets in Sorge, daß eines ihrer sechs Gepäckstücke verloren gehen könnte. Die Frau versuchte, ihn zu beruhigen, und sagte, es wären alle da. Sierpiński zählte, indem er jedes einzeln antippte: "0,1,2,3,..." und kam nur bis 5. Das bedeutete für ihn, daß ein Gepäckstück fehlte! Die Geschichte steht in dem lesenswerten Buch "Zahlenzauber" von John H. Conway und Richard K. Guy, Birkhäuser-Verlag, und wird dort als "von zweifelhafter Urheberschaft" bezeichnet.
3 Hierbei wird willkürlich 0!=1 gesetzt, was wegen 1=1! zu der seltsamen Gleichung 0!=1! führt. – In anderem Zusammenhang verabredet ein Teil der Mathematiker, daß der unbestimmte Ausdruck 00 (vgl. z.B. Wikipedia) gleich 1 sein soll, somit auch 00=10 und 01=11. Sind zwei Potenzen mit nicht-negativer Basis und demselben Exponenten einander gleich, so sind es auch ihre Basen: an=bn⇒a=b. Würde dies allgemein gelten, insbesondere auch für a=0, erhielte man aus der letzten Gleichsetzung 0=1. Die Null verhält sich in mancher Hinsicht anders als ihre "natürlichen" Schwestern. Schon vor Jahrhunderten schrieb Alois Stirnrunzler, Hofastronom bei Kaiser Rotbarsch/Barbarossa: "die nul ist ein widerborstig garstig ding", was sicherlich übertrieben ist.
4 http://userpage.fu-berlin.de/~ram/pub/pub_jf47ht81Ht/null, Absatz: "Das Zählen mit Null ist unserer Kultur nicht fremd". Der Artikel ist auch sonst interessant, was die Verwendungsmöglichkeiten der Null betrifft. Weiteres s. hier und hier.
5 Daß keine Einheitlichkeit in dieser Sache besteht, wird manchmal bedauert, z. B. bei Wolfram MathWorld: "Regrettably, there seems to be no general agreement about whether to include 0 in the set of natural numbers." Weiter heißt es dort: "Let P be a set of natural numbers; whenever convenient, it may be assumed that 0∈P." und: "The set of natural numbers (whichever definition is adopted) is denoted N."
6 Es sprach die Null zum Ei: "Ich gleiche dir figürlich," und dachte sich dabei: "drum bin auch ich natürlich." Was hier steht über sie, das ist nicht sehr ausführlich, mit wenig Ironie – mehr wäre ungebührlich. (Gereimtes aus einem Arbeitskreis des Kongresses über mathematische Lyrik, Zeno's Paradoxon und die Achillesverse.)

Drei Leser-Kommentare:

Re: Des Kaisers Bart
von Bernhard am Mi. 03. April 2013 20:24:12
Hallo Hans-Jürgen!
Wie nennt man die Gegner der Null eigentlich in der Fachsprache. Die einen Zeroisten, die andern dann "Naturalisten"?
Ansonsten wurde die Sache anscheinend todernst genommen. Es ist zum Haare Bart ausraufen - schon seit Jahrtausenden. Wenn schon sooo viele Haare wie hier ausgerissen worden sind, dann scheint auch ein Aprilscherz sie nicht mehr zum Nachwachsen zu bringen.
Viele Grüße und Danke für die nette Idee,
Bernhard
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Re: Des Kaisers Bart
von Martin_Infinite am Sa. 06. April 2013 23:25:04

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Re: Des Kaisers Bart
von matroid am Sa. 06. April 2013 23:35:03
Wenn nun in Euroland auch negative Münzen eingeführt würden, dann könnte man 80 Cent bezahlen, indem man einen Euro und -20 Cent gibt. Und der Andere müsste kein Wechselgeld herausgeben. Das Problem wäre nur, wenn der Andere dann die -20 Cent Münze verlöre, hätte er mehr als vorher.

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