Ruth Lichtwitz: Heilige Worte1

Wenn ihr betet, so sprecht: Unser Vater im Himmel!
(Lukas 11, Vers 2-4)

Wir alle kennen das Gebet, das Jesus lehrte, es persönlich jedoch nie gebetet hat.

Wenn unser Herr Jesus uns dieses Gebet vorsprach, so dürfen wir wohl annehmen, dass es alles enthält, was ein Mensch bitten muss, um ein erfülltes, harmonisches, ja vielleicht sogar glückliches Leben zu führen.

Ist das so? Ist es wirklich so einfach? Man muss also nur das nachsprechen, was der Herr uns vorgebetet hat und schon haben wir in ganzem Umfang das zum himmlischen Vater gesagt, was es zu sagen gibt – was er hören will. Oder?

Es ist noch gar nicht so lange her, da dachte ich so. Ich fügte meinen persönlichen Worten, die überwiegend von Bitten geprägt waren, das „Vater unser“ an und war mir sicher, jetzt alles getan zu haben, um bei Gott Gnade zu finden, um vor Unheil gefeit zu sein und durch die Bitte alle Sünden vergeben bekommen zu haben.

Irgendwann dann aber traf mich mitten im Beten oder Plappern der bekannten Worte ein Satz wie ein Schlag: <. . . . . wie wir vergeben unseren Schuldigern! >

Was hiess das? Es war also doch nicht so, dass mir jede Schuld einfach und problemlos vergeben wird, weil ich darum gebetet habe, dass Gott mit einem „Schwamm drüber“ mich frei spricht und ich zu einer neuen Tagesordnung übergehen kann. Da war ja eine ganz gewaltige Sperre: . . . wie wir vergeben unseren Schuldigern!

Habe ich denn all denen, die mich kränkten, mich verletzten oder diskreditierten – sei es ihnen bewusst oder nicht – vergeben? Gab es keinen Nachbarn, keinen Bekannten oder kein Familienmitglied gegen die ich keinen Groll hegte? Wie war es mit Alfred, der Böses, Unwahres über mich verbreitet hatte? Wie hatte ich reagiert, als mich meine Kinder angriffen und mich allein liessen? Wie lange schon bin ich einer sogenannten Freundin gram, weil sie mich blossgestellt hatte und was war damit, dass ich nicht vergessen konnte, was mir ein Freund schuldig geblieben ist, der mich anpumpte, aber das Zurückgeben so lange vergass, bis ich resignierte?

Habe ich vergeben? Ist in mir kein Groll mehr gegen diejenigen, die mir weh taten? Und waren es immer nur die anderen, die austeilten – oder war ich nicht oft sogar der Auslöser für die Lieblosigkeiten und Gemeinheiten gewesen?

Das waren Fragen, die in meinem Inneren plötzlich an die Substanz gingen und ich nahm mir fest vor, reinen Tisch zu machen, das Gewesene, Erlebte ruhen zu lassen und meinen „Schuldigern“ ab sofort mit Verständnis und Freundlichkeit zu begegnen.

Aber das war leichter gedacht, als getan. Ich betete zwar täglich noch immer: „Und vergib uns unsere Schuld“, aber bei der Voraussetzung für diese Vergebung, beim „wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ geriet ich jedes Mal ins Stocken. Mir wurde klar, dass ich keine Vergebung finden würde, wenn ich in meiner Haltung beharrte, wenn ich weiterhin übel nahm, nachtrug und in einigen Fällen sogar darauf wartete, dass eine (himmlische) Strafe auf das Haupt des Übeltäters fiel.

Und so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte es nicht schaffen, von mir aus zu vergeben und zu vergessen. Damit quälte ich mich so lange bis ich den richtigen Weg fand.

Als ich nämlich darum betete, dass Jesus mir geben möge, die bösen Dinge, (die ich glaubte, so ungerechtfertigt erlebt zu haben) zu vergessen und meinen Mitmenschen wieder freundlich, freundschaftlich zu begegnen, da ging es.

Nicht von einem Tag auf den anderen, aber täglich ein Stück besser. Und eines Tages merkte ich, dass nichts mehr in mir war, das trennend zwischen meinen Freunden und mir stand, ich begriff, dass ich frei war von aller Rachsucht und bösen Gedanken, dass ich es nunmehr wollte, mich mit ihnen in Ruhe und Freundschaft auszusprechen.

Zugegeben, so hundertprozentig ist es nicht gelungen, weil ja bekanntlich zu einem Dialog zwei gehören und mein Gegenüber nicht immer bereit war, die Geschehnisse von einer höheren Warte aus zu betrachten.

So ist auch nicht in allen Fällen gelungen, auf dem Boden von Freundschaft oder Liebe wieder miteinander zu leben, bei einigen Menschen ist sogar die Entfremdung stärker geworden, aber das tut mir nicht mehr weh.

Mit der Hilfe unseres Herrn Jesu kann ich nunmehr für diese Leute beten und mit einem Gefühl von Verstehen und Wärme an sie denken.

Ich weiss, es wird immer wieder ein Missverständnis oder noch Schlimmeres geben, ich werde nicht immer besonnen und „christlich“ reagieren oder agieren und sicher geht mein Temperament auch noch oft mit mir durch. Dadurch werden wieder Wunden geschlagen und wird Bitterkeit verbreitet.

Was ich aber auch weiss, das ist, dass ich immer wieder zu meinem Erlöser gehen und ihn um Hilfe und Führung bitten darf.

Hierdurch hat die Bitte „und vergib uns unsere Schuld“ für mich eine neue Perspektive erhalten und ist die hierfür gegebene Basis „wie wir vergeben unseren Schuldigern“ keine unüberwindbare Barriere mehr. Wir dürfen fallen und werden es immer wieder, aber wichtig ist, dass wir Jesu Hand ergreifen und mit seiner Hilfe jedes Mal wieder aufstehen.

Wenn wir uns zudem daran erinnern, wie viel an sich nicht mehr Gutzumachendes uns allen schon vergeben worden ist und noch vergeben werden wird ohne hieran ein persönliches Verdienst zu haben, dann sollte es für uns doch auch nicht so schwer sein, unseren Mitmenschen versöhnlich zu begegnen – auch dann wenn sie es vielleicht gar nicht wollen.

1 September 2001

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