Über das Gedenken an den Reformationsbeginn

In den Oktobertagen 2017 dachten viele, vor allem in der evangelischen Kirche, verstärkt an die Thesenverkündigung Martin Luthers vor fünfhundert Jahren. Sie richtete sich gegen bestimmte, als unhaltbar angesehene Zustände in der damals noch mächtigen Kirche und war der Beginn der Reformation. Die Kirche antwortete auf verschiedenen theologischen, kulturellen und politischen Ebenen mit dem, was oft als "Gegenreformation" bezeichnet wird. Darüber ist vieles in Büchern, Zeitungen und Zeitschriften geschrieben worden; einiges findet man im Internet wie z. B. hier: [1]. Was einst zur Kirchenspaltung und zu Religionskriegen führte, hat sich im Laufe der Jahrhunderte abgeschwächt, und heutzutage gehen Katholiken und Protestanten bei manchen Anlässen aufeinander zu.

Ein moderner, nicht sehr einflussreicher Gegner des Reformationsgeschehens kam aus der atheistisch-"humanistischen" Ecke.

Unter der Überschrift: "Feiert Lukrez statt Luther" wurde in [2] mit Hinweis auf den römischen Philosophen und Dichter versucht, von Gedanken an die Reformation abzulenken. Ich kenne Lukrez' Werk "Über die Natur der Dinge" und bewundere es trotz seiner religionskritischen, materialistisch-atomistischen Tendenz; Näheres dazu hier und hier.

In demselben Artikel [2] wird für das Buch [3] eines amerikanischen Literaturprofessors geworben. Er behauptet, dass die antike Schrift genau hundert Jahre vor Luthers Thesen wiederentdeckt wurde. Als "vermutlicher" Fundort wird die Benediktinerabtei Fulda genannt. Wenn aber dieser nicht sicher ist: wie zuverlässig ist dann das Auffindungsjahr 1417? Für den Professor und seine Anhänger passt es so schön als Gegenpol zu den Reformationsfeiern sechshundert Jahre danach. Ein seltsamer Zufall, wie es scheint, vorausgesetzt, die Behauptung stimmt.

Daran zweifle ich1 und halte, nicht nur deshalb, die Empfehlung, im Lutherjahr 2017 anstelle des Wittenberger Reformators den antiken Dichter zu feiern, für abwegig.

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1 Aktuelle Internetseiten (ab 2011) schließen sich, soweit ich sehe, alle direkt oder indirekt ohne Begründung an [3] an. Eine ältere, sehr ausführliche [4], enthält wegen schlechter Quellenlage keine Details und erwähnt Lukrez nur am Rande. Zwei italienische Seiten [5],[6] nennen als Fundort St. Gallen/Schweiz bzw. ein nicht näher bezeichnetes Kloster im Elsass. Das Fundjahr geben sie einheitlich als 1418 (nicht '17) an. – In einer Lukrez-Ausgabe von 1957 (Aufbau-Verlag Ost-Berlin) mit der Übersetzung von Herrmann Diels heißt es am Schluss bei den Lebensdaten des Dichters, dass die genannte Handschrift von De Rerum Natura von Poggio Bracciolini im Jahre 1414 gefunden wurde.
Mein Fazit: ungefähr, nicht genau, hundert Jahre vor Luthers Thesenanschlag wurde ein verschollen geglaubtes Manuskript des römischen Dichters aufgefunden – na und? Welche Wirkung hatte das Werk langfristig, welche Bedeutung hat es für uns Heutige? Sie ist sehr gering im Vergleich zu Luthers Thesenanschlag und nachfolgender Bibelübersetzung, denn kaum einer, abgesehen von Fachleuten und Liebhabern antiker Texte, hat Lukrez wirklich gelesen; ich selber tat es zum großen Teil.

[1] Bad Hofgastein/Österreich: Gedenkstein – eine Urlaubsreminiszenz
[2] http://www.sueddeutsche.de/kultur/~feiert-lukrez-statt-luther-1.3723464
[3] Stephen Greenblatt: Die Wende - Wie die Renaissance begann. Pantheon Verlag
[4] //archive.org/stream/poggiusflorentin~, Seite 56
[5] http://mistero.me/societa-e-cultura~, Absatz Poggio Bracciolini, kleinere Schrift
[6] https://illuminationschool.wordpress.com~

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