aus: https://web.archive.org/~old/ps137.pdf

Predigt am 3.4.2005 von Heiko Prasse über Psalm 137

Der Text, von dem ich heute reden will, ist Psalm 137. Ausnahmsweise ist dieser Psalm nicht von David; genau genommen weiß kein Mensch, wer ihn geschrieben hat, im Text selbst steht nichts dazu. In der jüdischen Tradition gibt es zwar die Annahme, Jeremia sei der Autor, aber dies ist nur eine vage Vermutung, gegen die einiges spricht. Der Psalm ist also das Gebet eine unbekannten Dichters. Weil die Situation in der er betet eine ziemliche Rolle spielt, will ich kurz die „Vorgeschichte“ zusammenfassen, so weit es für das Verständnis hilfreich ist, bevor ich den Psalm selbst lese. Dann fällt es uns wahrscheinlich leichter, nachzuvollziehen, in welcher Situation der Psalm geschrieben wurde, und vielleicht sogar, wie sich der Autor fühlte.

350 Jahre zuvor hatte sich Israel in Streit um die Nachfolge König Salomos in ein Nord- und ein Südreich geteilt. Der etwas größere Nordteil behielt den Namen Israel, der Südteil wurde Juda genannt. In Juda war die Hauptstadt Jerusalem und damit auch der noch ziemlich neue Tempel Gottes, im Norden wurden von nun an auf bestimmten „heiligen Gipfeln“ Opfer für Gott dargebracht und die neue Hauptstadt Samaria gebaut. Für fast 200 Jahre existierten die beiden Staaten nebeneinander und führten manche Kriege. Mal gemeinsam gegen andere Nationen, mal gemeinsam mit anderen Nationen gegeneinander, mal war der eine politisch, militärisch und wirtschaftlich etwas mächtiger, mal der andere. Im 8. Jahrhundert wurde aber dann die großpolitische Lage durcheinander-gewirbelt, als Assyrien zur Großmacht aufstieg. Alle kleinen Länder im Nahen und Mittleren Osten wurden abhängige Vasallenstaaten, die regelmäßig Tribut bezahlten, damit sie nicht von der übermächtigen Armee angegriffen wurden. Auch Israel und Juda gerieten unter die Fuchtel der Assyrer. König Hoschea von Israel und König Hiskia von Juda wagten aber dann gemeinsam den Aufstand, indem sie den Tribut verweigerten und Schutz bei Ägypten suchten. Die Ägypter waren aber nicht mehr so stark wie zuvor, und so wurde diese Allianz besiegt. Die Folge für das Nordreich Israel war katastrophal: Der größte Teil des Volkes wurde gemäß der assyrischen Besetzungspolitik verschleppt und verstreut, Angehörige anderer besiegter Völker in Israel angesiedelt und ihre kulturelle und religiöse Identität dadurch gezielt zerstört. Die Spur der zehn Nordstämme verlor sich für immer in der Geschichte. Hiskia im Süden dagegen gelang es, diplomatisch einen Frieden zu schließen, auch wenn er sehr teuer dafür bezahlen musste. Sehr bald darauf stand das assyrischen Heer dann doch vor den Toren Jerusalems – zog aber zweimal unverrichteter Dinge wieder ab, weil Gott eingriff und die Stadt ohne Kampf wieder frei wurde. In der Zeit dieser Ereignisse, die politisch und militärisch betrachtet absolut Wunder waren, sah Jesaja visionär voraus:

Und es wird geschehen am Ende der Tage, da wird der Berg des Hauses Jahwes feststehen auf dem Gipfel der Berge und erhaben sein über die Hügel; und alle Nationen werden zu ihm strömen.
Und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt und lasst uns hinaufziehen zum Berge Jahwes, zum Hause des Gottes Jakobs! Und er wird uns belehren aus seinen Wegen, und wir wollen wandeln in seinen Pfaden. Denn von Zion wird das Gesetz ausgehen, und das Wort Jahwes von Jerusalem; (Jesaja 2,2+3)

In dieser Zeit entstand dann eine Zions-Theologie: Das Haus Jahwes – natürlich, das steht in Jerusalem, und das kann ja nicht erobert werden – das würde er niemals zulassen. Schnell wurde das zum festen Grundsatz: Jerusalem ist unbesiegbar, denn Gott wohnt dort. Dieser Gedanke drückt sich auch in einige Psalmen aus, so heißt es zum Beispiel in Psalm 48,9: „Wie wir es gehört haben, so sehen wir es an der Stadt des Herrn Zebaoth, an der Stadt unseres Gottes: Gott erhält sie ewiglich“.

Und tatsächlich: Das mächtige Reich Assyrien wurde schwächer, Juda konnte das alte Nordreich zumindest teilweise wieder unter seine Kontrolle bringen, die Erwartung schien sich zu bestätigen: Jerusalem würde von Gott ewig erhalten werden. Aus diesem Vertrauen in Gott wurde mit der Zeit Selbstsicherheit und schließlich Hochmut. Nach über hundert Jahren stellte Jeremia dann als erster dieses Gottesbild in Frage: Er forderte die Könige und das Volk von Juda auf, sich wieder konsequent Gott zuzuwenden, das Gesetz zu halten und damit auch gerechte Wirtschaftsstrukturen umzusetzen:

So spricht Jahwe Zebaoth, der Gott Israels: Machet gut eure Wege und eure Handlungen, so will ich euch an diesem Orte wohnen lassen.
Und verlasset euch nicht auf Worte der Lüge, indem man spricht: Der Tempel Jahwes, der Tempel Jahwes, der Tempel Jahwes ist dies!
Sondern wenn ihr eure Wege und eure Handlungen wirklich gut machet, wenn ihr wirklich Recht übet zwischen dem einen und dem anderen,
den Fremdling, die Waise und die Witwe nicht bedrücket, und unschuldiges Blut an diesem Orte nicht vergießet, und anderen Göttern nicht nachwandelt euch zum Unglück:
dann will ich euch an diesem Orte, in dem Lande, das ich euren Vätern gegeben habe, wohnen lassen von Ewigkeit zu Ewigkeit.


Aber die offiziellen Propheten des Königs widersprachen ihm – schließlich wusste ja jeder Jude genau, dass Gott garantiert hatte, dass Jerusalem nie besiegt werden würde – wer etwas anderes behauptete, war entweder ein Spinner oder ein falscher Prophet. Also wurde Jeremia in einen Brunnen geworfen, damit er seine Lügen nicht weiter verkünden könnte. Und jetzt sind wir der Zeit, in der der Psalm geschrieben wurde, schon sehr nahe gekommen: Auf einmal waren die Babylonier da, vor Jerusalem. Eigentlich waren sie ja so etwas wie Freunde, die den großen Feind Assyrien besiegt hatten. Aber jetzt versuchten sie unter König Nebukadnezar selbst mit aller Macht, alle Länder ihrem Reich einzuverleiben, die nur irgendwie zu besiegen waren. Zwar ging es noch einige Jahre hin und her, aber schließlich wurde Jerusalem doch erobert. Die Stadtmauer wurde eingerissen. Der Tempel, der heilige Tempel Gottes, der Frieden und Unbesiegbarkeit hatte garantieren sollen, wurde zerstört. Fast alle Einwohner des Landes wurden in das weit entfernte Babylon verschleppt. Der „Lügenprophet“ Jeremia hatte recht behalten. Für die Juden brach nicht nur ein Staat zusammen, ihr Weltbild und ihr Gottesbild wurde in seinen Grundfesten erschüttert. Und jetzt, unter den Gefangenen in Babylon, irgendwo zwischen Euphrat und Tigris, entstand Psalm 137 – der Autor ist ent täuscht in seinen Erwartungen an Gott, hasserfüllt gegen die Babylonier und beinahe alle seine Hoffnung los. Und da hat er dann folgendes geschrieben:

Wir saßen an den Strömen in Babel und weinten, wenn wir an Zion dachten. Unsere Leiern hängten wir in die Pappeln.
Denn dort forderten von uns ein Lied, die uns gefangen hielten, und Jubel, die uns verspotteten:„singt ein Lied von Zion!“
Wie ist Gottes Lied zu singen auf fremder Erde?
Wenn ich Jerusalem vergesse, so verdorre meine rechte Hand!
Meine Zunge klebe am Gaumen, wenn ich nicht an dich denke, wenn ich nicht Jerusalem zu meiner größten Freude erhebe.
Gott, erinnere dich an die Söhne Edoms, die am Tag Jerusalems sagten: Reißt ein, reißt ein, bis auf den Boden.
Zerstörende Tochter Babels, selig ist, der dir vergilt, was Du uns angetan hast. Selig ist, der deine Kinder ergreift und am Felsen zerschmettert.

Sehr viel Emotion liegt in diesem Psalm. Es beginnt damit, dass die Besiegten von ihren Bezwingern verspottet werden: „Singt ein Zionslied!“ Nicht nur dass sie in ihrer Lage aufgefordert werden, fröhlich zu singen, während ihnen nach nichts anderem als hemmungslosem Weinen zu Mute ist. Nicht nur, dass sie musizieren sollten, wenn sie ihre Musikinstrumente als absolut nutzlos betrachten und in die Bäume hängen, weil sie sich sicher sind, nie wieder fröhlich darauf spielen zu können. Nein, hämisch fordern ihre Feinde sie auf, ein Zionslied zu singen, also ein Loblied auf die Pracht, Würde und Unbesiegbarkeit des zerstörten Jerusalem – was für ein beißender Spott!
Zur Unmöglichkeit in dieser Stimmung zu musizieren kommt auch noch die Frage auf: Kann man auf fremder Erde, außerhalb des versprochenen Landes Israel, überhaupt Lieder singen, die den Gott Israels betreffen, oder gar zu ihm singen? Und wahrscheinlich schleichen sich auch deutliche Zweifel ein, ob es nicht doch stimmt, was die Babylonier und die anderen Nachbarvölker glauben: Wenn ein Land erobert wird, dann waren seine Götter eben schwächer als die Götter der Sieger. Ist Gott besiegt worden?!? Ist der Marduk der Babylonier letztlich doch ein mächtigerer Gott? Wenn es offensichtlich falsch war, dass Jerusalem nie erobert werden würde, ist es dann vielleicht auch falsch, dass der Gott Israels der einzige Gott ist?

Was mir auffiel: Er redet hier nicht von Gott – die verlorene heilige Stadt scheint dem Psalmbeter wichtiger zu sein als der Gott, durch den sie heilig war. Im Rückblick heute können wir dieses theologische Missverständnis, dieses falsche Gottesbild absurd finden – aber es fordert mich auch heraus, darüber nachzudenken, wo ich heute an traditionellen Glaubenssätzen festhalte und gar nicht wage, zu hinterfragen, ob sie tatsächlich Gültigkeit haben, und nicht auf einem uralten Missverständnis irgendeiner Bibelstelle oder auf einer historischen Tradition beruhen. Wo nehme ich etwas Religiöses wichtiger als Gott, obwohl es doch nur wegen ihm überhaupt wichtig ist? Ist für mich die Bibel als Buch wichtiger als der, der mir in ihr begegnet? Ist mir die Gemeinschaft in der Gemeinde wichtiger als die Gemeinschaft mit Gott, in dessen Namen sich die Gemeinde versammelt? Singe ich Anbetungslieder wegen der schönen Melodie, oder wirklich zu Gott? Und das ist bei Gesangbuchklassikern genauso die Frage wie bei modernem Lobpreis! Oder glaube ich irgendwo zutiefst in meinem Innern womöglich doch der alten Lehre, dass mir nie etwas Unangenehmes passieren kann, wenn ich an Jesus glaube? Auch wenn wir genau wissen, dass es Märtyrer gab, dass Jesus seinen Nachfolgern niemals ein „glückliches und unbeschwertes Leben“ im gewöhnlichen Sinn versprochen hat, im Gegenteil! Aber wenn Christen Leid passiert, wird immer wieder sichtbar, dass sie davon ausgingen, ihnen als Nachfolgern Jesu könne so etwas nicht passieren. Ja versprechen nicht sogar manche Evangelisten vollmundig materiellen Erfolg und Sicherheit für alle, die sich bekehren? So weit sind wir gar nicht entfernt vom Zionsglauben, den der Psalmdichter hatte, bevor er ent-täuscht wurde. Die meisten Psalmen sind ja Gebete, die sich direkt an Gott richten, in Psalm 137 aber wird Gott in den ersten 6 Versen nicht angesprochen – kann man das überhaupt, den Namen Gottes in fremdem Land anrufen? Mindestens verunsichert scheint der Beter zu sein. Aber schließlich versucht er es im letzten Drittel doch: Gott, erinnere Du Dich daran, wie die Edomiter sich verhalten haben! Die Edomiter, die Nachkommen Esaus, das Brudervolk der Israeliten, hielt sich ganz auf Seiten Babylons als Jerusalem besiegt wurde. Sie forderten die Zerstörung der heiligen Stadt – vielleicht wären die babylonischen Soldaten sonst sogar gnädig gewesen und hätten die besiegte Stadt verschont? Dieser Frevel soll nicht vergessen werden! Und wo er gerade bei Rachegedanken ist, denkt er natürlich nach den Verrätern auch an die Täter, die „Söhne Babels“: Selig ist, wer ihnen vergilt, was sie Israel angetan haben, findet der Autor. Ja, die Kinder der Stadt Babel, also das babylonische Volk zu zerschmettern, vernichten, töten, auszurotten, das ist in seinen Augen eine Seligmachende Tat. „Selig ist, wer...“, das kommt uns bekannt vor. Tatsächlich steht hier im griechischen Alten Testament, das zur Zeit Jesu im Gebrauch war, genau der Ausdruck, den er in der Bergpredigt verwendet, aber bei ihm tönt es doch völlig anders: zum Beispiel „selig sind die Friedfertigen“ oder „Selig sind, die verfolgt werden für die Gerechtigkeit“. Der Autor von Psalm 137 sieht sich nicht als Prophet, der im Namen Gottes redet, er spricht schon gar nicht mit der selben Autorität wie Jesus, der völlig eins mit Gott war. Seine „Seligpreisung“ rechtfertigt keinesfalls brutale Gewalt und blutige Rache. Was uns diese beiden Verse, die den Weg in die heiligen Schriften gefunden haben, aber vermitteln, ist, dass ein gläubiger Mensch all seine Gefühle ausdrücken darf, auch Zorn, Verzweiflung und Hass, sogar und besonders im Gebet vor Gott. Auch diese sogenannten „negativen“ Gefühle sind Teil des Geschöpfes Mensch, dass Gott so gemacht hat, und wenn wir sie verteufeln und versuchen, sie nie zu haben, wird uns das zum einen sehr schwer fallen, zum anderen wohl über kurz oder lang verbissen und krank machen. Es ist jedoch unsere Verantwortung, wie wir mit ihnen umgehen, ob wir sie in verletzende Worte und Taten umsetzen, oder am richtigen Ort ausdrücken. Der Dichter dieses Psalms wusste, wo der richtige Ort ist: Wenn wir unseren Zorn und unsere Rachegedanken zu Gott bringen und sie ihm anvertrauen, wenn wir es ihm überlassen, die Gerechtigkeit wieder herzustellen, dann können wir unseren Hass am einfachsten loslassen und haben die größte Chance, offen zu werden für eine ernst gemeinte Versöhnung. Psalm 137 gehört zu den Stellen der Bibel, die ich nur schwer verstehen kann, und die ich manchmal gern übersehen würde. Die Verehrung einer Stadt ist mir ziemlich fremd, und die brutalen Rachegelüste des Beters befremden mich noch viel mehr. Aber ich kann daraus dennoch zwei Dinge lernen: Das eine ist, dass ich meine Glaubenssätze immer wieder aufs neue hinterfragen will. Beruhen sie nicht auf falschen Grundlagen? Hat mich Gott inzwischen so weit gebracht, dass er mir das zeigen kann? Ich will nicht starr werden in meinem Denken, nur weil festgeschriebene Lehrmeinungen mir die Sicherheit bieten, mich nicht ändern zu müssen. Ich will Dinge, die mir andere Christen sagen, offen und kritisch betrachten – offen, weil sie mir zeigen können, wo ich mich bisher irre, und kritisch, weil auch andere sich irren können und selbst die größten geistlichen Autoritäten neben Weisheit auch Irrlehren verbreiten können. Das zweite ist, dass ich Gott gegenüber absolut ehrlich zu meinen Gedanken und Gefühlen stehen will. Dazu ist es wahrscheinlich oft notwendig, erst einmal mir selbst gegenüber ehrlich zu werden, meine Gefühle wahrzunehmen und zuzulassen. All die geistliche Erziehung in Familie und Gemeinde, die mir beigebracht hat, bestimmte Gefühle zu unterdrücken und zu verleugnen, will ich ablegen, um damit ehrlich vor Gott zu kommen. Dann kann Gott mir diese Gefühle abnehmen und mich frei machen, dann kann ich meinen Mitmenschen mit Ehrlichkeit, echter Liebe und Vergebung gegenübertreten. So können heile Beziehungen entstehen, aber nicht, wenn jeder nur seine Gedanken und Gefühle, die er für negativ hält, totschweigt. Wo wir alle ehrlich werden vor uns selbst, vor Gott und voreinander, dort wird die Gemeinde zum gesunden Leib Christi. Wir können uns nicht selbst zu guten Menschen machen, indem wir Gefühle unterdrücken, die wir für falsch halten. Wir können uns nur von Gott verändern lassen, wenn wir so wie wir sind, ehrlich vor ihn treten!

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