Über zwei Arten des Gottesdienstes

Vor ein paar Jahren erhielt ich von einem evangelischen Pastor, der für seine "modernen" Gottesdienste berühmt ist, eine Diskette mit geistlichen Texten. Unter ihnen war eine von ihm ausgedachte Geschichte über einen vierzehnjährigen Jungen namens Rudi.

Dieser muß, um konfirmiert zu werden, sonntags regelmäßig zum Gottesdienst gehen. "Kirchenzwang" nennt er das.

An Erwachsenen gibt es dort nur ein paar alte Frauen, die Rudi unfreundlich mustern und zur Seite rücken, wenn er sich setzt. Mißmutig stellt er fest, daß das Kirchengestühl härter ist als seine Schulbank.

Der Pastor ist schwarz "verkleidet", seine herzliche Begrüßung für Rudi bedeutungslos. Bald danach geht es um Geld - da bedankt sich der Pastor für die Kollekte vom letzten Sonntag. Anschließend verwendet er furchtbar viele Fremdwörter und seltsame Ausdrücke. Rudi begreift nix. Zum Beten hat er keine Lust, und die Orgel stört ihn. Da er schlecht hört, versteht er statt ''all' Fehd' hat nun ein Ende'': ''Alfred hat...'' - Wirklich sehr witzig!

Die Geschichte las ich mit Unbehagen. Sie zeichnet ein Zerrbild sogenannter "alter" Gottesdienste und enthält noch weitere Vorurteile, die hier nicht wiedergegeben sind. Ein bestimmtes Detail dabei ist unsinnig und kann gar nicht sein.

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Selber mache ich mit der Kirche ganz andere Erfahrungen. Ich gehe gerne zum Gottesdienst. Sieht man von der Urlaubs- und Ferienzeit ab, sind dort jeden Sonntag weit über hundert Leute: Kinder und Jugendliche, Frauen und Männer.

Der Pastor, um die vierzig, begrüßt im Talar die Gottesdienstbesucher freundlich bereits am Eingang. Er ist sehr beliebt.

Ich freue mich über das Orgelspiel, das feierlich auf das Kommende einstimmt. Der Ablauf ist, mit geringen Variationen, immer gleich: Gebet, gemeinsamer Gesang, Lob Gottes und Dank an ihn, Bitte um Vergebung und um Hilfe für die, denen es schlecht geht. Am Ende steht das heilige Abendmahl, an dem ich, wie fast alle anderen, regelmäßig teilnehme, innerlich tief bewegt.

Nie wird es mir im Gottesdienst langweilig. Der Pastor liest seine Predigt nicht ab, sondern trägt sie mit spürbarer Zuwendung an sein Publikum frei vor. Durch sie lernte ich im Laufe der Zeit immer wieder dazu: über den Heiligen Geist und dessen Wirken im menschlichen Leben, über die Entwicklung der Taufe innerhalb der vergangenen zweitausend Jahre, über das Kirchenjahr und vieles andere mehr.

Natürlich ist die Predigt keine Lehrveranstaltung, in der es nur um Faktenwissen geht. Der Pastor predigt das Wort Gottes; er tut es streng und eindringlich, aber auch, wenn es sich ergibt und angebracht ist, mit einer Spur von Humor. Die Predigten sind lebensnah, bezogen auf heute, gleichzeitig aber mit früherem Geschehen verwoben, mit dem Glauben von Menschen, die vor Tausenden von Jahren lebten. Sie führen zu weiterem Nachdenken, lassen hoffen und manches in neuem Licht erscheinen.

So bin ich dankbar für ''meine'' Kirche in unserer ländlichen Gemeinde, anders als der mit durchsichtigem Zweck erfundene Rudi.

Siehe hierzu auch: Ein besonderer Gottesdienst

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